Krieger oder Brunnenbohrer?

Kanonenfutter Um die NATO zu erhalten, ziehen die USA alle Register

"Gibt es die NATO noch?", fragte besorgt Die Zeit und orakelt voller Pathos: "Der Einberufungsbefehl (sic!), den der amerikanische Verteidigungsminister vergangene Woche an die Bundeswehr schickte, dürfte erst der Anfang eines großen, nunmehr öffentlichen Zerrens um einen gerechten Blutzoll (sic!) in Afghanistan gewesen sein." Solcherart Diktion weckt nicht nur Assoziationen an die vom Todeswahn diktierte Endphase des Totalen Krieges, sondern legt die Frage nahe, wie versessen man eigentlich sein muss, um in jenem immer mehr zur transatlantischen Kampfgazette mutierenden Wochenblatt Gefallen an derartigen Phrasen zu finden.

Weitere Proben gefällig? "Doch jetzt hat ... die Geduld der angelsächsischen Krieger mit den europäischen Brunnenbohrern allmählich ein Ende", konstatiert mit leicht verächtlichem Soupçon Autor Jochen Bittner und moniert im selben Ton: "Halblaut nennen manche US-Militärs ihre deutschen Kameraden längst Feiglinge", um schließlich die abstruse Frage zu stellen: "Lässt sich Europas Zivilität mit Amerikas Feuerkraft verbinden?"

Einfältiger lässt sich kaum fragen. Wenn die Welt auf eine Errungenschaft ersatzlos verzichten kann, dann auf "Amerikas Feuerkraft" - jene Hunderttausende von Toten, die der Kreuzzug von George Bush im Irak und in Afghanistan hinterlassen hat, legen hiervon schweigend Zeugnis ab. Unfähig jeder humanitären Regung beklagt die so genannte Strategic Community hierzulande statt der Opfer ihrer Kriegspolitik lieber das in den Bereich des Möglichen gerückte unrühmliche Ende einer obsolet gewordenen Militärallianz.

Dabei böte doch der endgültige Zerfall der NATO unschätzbare Chancen für eine friedlichere Welt. Gescheitert wäre der jedem internationalen Recht hohnsprechende Versuch, an den Vereinten Nationen vorbei unter falscher Flagge ein Angriffsbündnis "lupenreiner Demokraten" als globalen Dienstleister für Sicherheit zu etablieren. Schlichter formuliert: Der Bock könnte nicht länger den Gärtner spielen. Eingeläutet wäre der Anfang vom Ende des Imperium Americanum, dem die NATO seit ihren Kindertagen auf dem europäischen Kontinent diente und für das die Europäer heutzutage das Kanonenfutter für im Oval Office ausgedachte Globalisierungsfeldzüge zu liefern haben. Wenn auch mit dem Ende des Bündnisses die größte Gefahr für die internationale Sicherheit in Gestalt der USA nicht gänzlich eingehegt wäre - drastisch reduziert wäre sie allemal.

Für eine nach wie vor essentielle Funktion einer ansonsten überflüssigen NATO freilich müsste unbedingt Ersatz geschaffen werden. Der ehemalige NATO-Generalsekretär Lord Ismay hatte den Bündniszweck mit seinem berüchtigten Diktum beschrieben: "To keep the US in, the Soviets out and the Germans down". Konkret hieß das: Nie wieder durfte Deutschland zu einer autonom handlungsfähigen Militärmacht im Herzen Europas werden. Diese Maxime gilt kategorisch fort. Exakt deshalb wäre ein funktionales Äquivalent für eine entschwindende NATO unabdingbar.

Und diese aus Sicht sämtlicher europäischer Nachbarn unverzichtbare Einhegung deutscher Militärmacht ließe sich einzig dadurch erfüllen, dass die Bundeswehr in eine gesamteuropäische Armee integriert würde, die wesentliches Element einer Europäischen Verteidigungsunion wäre. Die dafür benötigten Komponenten sind längst vorhanden: Im Rahmen der so genannten "Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik" wurde eine eigene Sicherheitsstrategie formuliert. In Gestalt des Politischen und Sicherheitspolitischen Komitees, des Militärausschusses, des Militärstabes und der EU-Planungszelle gibt es Führungsstrukturen. Zudem existieren seit langem eigene Militärformationen wie Eurokorps und Battle Groups. Europa bräuchte nicht zu zögern, die sich eröffnende Chance zur Emanzipation von den Vereinigten Staaten zu ergreifen. Auf diese Weise könnte der Kontinent tatsächlich zur Friedensmacht werden, hätten die "europäischen Brunnenbohrer" über die "angelsächsischen Krieger" obsiegt. Statt also weiter die NATO als Heilige Kuh zu vergötzen, scheint die Zeit reif, der Allianz ein zeitraubendes Dahinsiechen zu ersparen, indem man sie kurzerhand auflöst.

Dipl. Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr und vertritt in diesem Beitrag seine persönlichen Auffassungen.

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