Krypto-Freiwilligenarmee

Reformdrang Wie die Bundeswehrführung und Minister Struck den schleichenden Verzicht auf die Wehrpflicht organisieren

Nun ist sie doch noch in Fahrt gekommen - die scheinbar endlos hinausgezögerte Bundeswehrreform. Anfang Oktober war der Bundesverteidigungsminister vor die Presse getreten, um einer staunenden Öffentlichkeit seine gerade erlassene Weisung für die Weiterentwicklung der Bundeswehr zu erläutern. 13 Jahre nach Ende des Kalten Krieges wollte die Bundeswehrführung erstmals eine tragfähige und zukunftweisende Konzeption für die Streitkräfte im 21. Jahrhundert vorlegen. Ob dies vornehmlich aus kluger strategischer Weitsicht geschah, bleibt dahingestellt.

Das Wasser stehe ihm in budgetärer Hinsicht bis zur Oberkante Unterlippe, musste Peter Struck zugeben, als er sich Anfang des Monats zur "Weiterentwicklung der Bundeswehr" äußerte. "Die Bundeswehrplanung steht nicht mehr im Einklang mit der finanziellen Gesamtsituation des Verteidigungshaushalts." Daher sei eine "über das bisherige Maß hinausgehende Umgestaltung" unausweichlich. Angesagt ist nun die Reform der Bundeswehrreform, zutreffender: Die Grundsanierung der von Strucks Vorgänger Scharping hinterlassenen Reformruine. In der Bürokratensprache der Verteidigungsministerialen firmiert das unter der Tarnbezeichnung "synchronisierte Veränderung aller Bestimmungsgrößen".

Dabei hält die Hardthöhe unbeirrbar am Dogma der Wehrpflicht fest, während die Kontroverse um Erhalt oder Aussetzung derselben zwischenzeitlich vielfach zu einer Glaubens- und Bekenntnisfrage stilisiert wird, die jeden kritischen Reflex über dieses Thema a priori dem Verdacht der Staats- und Demokratiefeindlichkeit preisgibt. Allerdings hatte schon die Weizsäcker-Kommission in ihrem Bericht Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr im Mai 2000 konstatiert: "Eine Freiwilligen-Armee ohne Wehrpflichtkomponente ist in vollem Umfang operativ. Sie entspricht den neuen militärischen Herausforderungen ... Ihre Soldaten können sowohl zur Bündnis- und Landesverteidigung als auch in Krisen jenseits der Bündnisgrenzen eingesetzt werden." Siehe: "Verteidigung" am Hindukusch.

Mit der jetzigen Reform läge der endgültige Abschied von der Wehrpflicht-Ideologie allein schon deshalb nahe, weil die Bundeswehr bereits heute eine verkappte Freiwilligenarmee ist. Gemäß dem derzeit gültigen Personalstrukturmodell 2000 stehen 229.400 freiwillig dienenden Soldaten nur noch 53.000 Grundwehrdienstleistende gegenüber. Letztere stellen gerade einmal 23 Prozent des militärischen Personals. Wer angesichts derartiger Relationen die Bundeswehr noch immer als "Wehrpflichtarmee" etikettiert, täuscht das Publikum. Dies um so mehr, als der Minister entschieden hat, die Zahl der Soldaten weiter - um 35.000 auf künftig noch 250.000 - zu reduzieren.

Zwar vermeidet die Hardthöhe bisher noch konkrete Angaben, aber soviel dürfte feststehen: Die Zahl der Grundwehrdienstleistenden wird unter die bisherige Marge von 53.000 sinken. Folgt Peter Struck der Empfehlung der Weizsäcker-Kommission und lässt bald nur noch 30.000 Auswahlwehrpflichtige einberufen, würde sich der Wehrpflichtigenanteil in der Armee auf zwölf Prozent verringern. Damit wird beschleunigt, was bereits in den vergangenen Jahren - stets begleitet von lautstarken Lippenbekenntnissen zur Allgemeinen Wehrpflicht - begann: der schleichende Übergang zur Krypto-Freiwilligenarmee.

Neben dem drastischen Abbau des Anteils der Wehrpflichtigen gibt es dafür eine Reihe weiterer Indikatoren: Vor Jahren schon wurde Grundwehrdienstleistenden die Möglichkeit eröffnet, freiwillig ihren Dienst zu verlängern. Die entsprechende Konstruktion nennt sich FWDL - "Freiwillig Zusätzlichen Wehrdienst Leistender". Der regulär neun Monate dauernde Grundwehrdienst kann flexibel auf maximal 23 Monate verlängert werden. Formal besitzen die Betreffenden zwar noch Wehrpflichtigenstatus, de facto handelt es sich jedoch um Etikettenschwindel, denn die länger dienenden Wehrpflichtigen werden ähnlich den freiwilligen Zeitsoldaten entlohnt. Außerdem müssen sie sich bereit erklären, an internationalen Kriseneinsätzen der Bundeswehr teilzunehmen - ebenso wie freiwillige Zeitsoldaten.

Man sollte daran erinnern, dass mit den neuen "Verteidigungspolitischen Richtlinien" vom Mai 2003 ein globaler Interventionsauftrag für die Bundeswehr endgültig als Priorität definiert wurde. Grundwehrdienstleistende dürfen nun aber für solche Einsätze nicht herangezogen werden, sie sind allein Sache der freiwilligen Soldaten. Das heißt nicht zuletzt, der reguläre Grundwehrdienst erfährt mit den genannten Prioritäten einen Bedeutungs- und Funktionsverlust, der direkt auf den Charakter der Armee durchschlägt.

Vorangetrieben wurde der schleichende Verfall der Wehrpflicht auch durch die ab Januar 2001 erfolgte vollständige Öffnung des soldatischen Dienstes in der Bundeswehr für Frauen - ausschließlich auf freiwilliger Basis, versteht sich. Damit war das Rekrutierungsreservoir für benötigten Nachwuchs schlagartig vergrößert. Auch die übrigen Anstrengungen hinsichtlich der Nachwuchsgewinnung sind erheblich intensiviert worden. So wirbt die Bundeswehr inzwischen etwa zwei Drittel der jährlich benötigten Freiwilligen an - mit steigender Tendenz. Zugleich sinkt der Anteil derer, die sich als Wehrpflichtige aus der Truppe heraus zum freiwilligen Dienst weiter verpflichten, das heißt auch mit Blick auf den Nachwuchs verliert die Wehrpflicht an Bedeutung. Verstärkt wird dieser Trend durch massive Investitionen, die sowohl der Besoldung und als auch zivilberuflicher Aus- und Weiterbildung zugute kommen, um das Interesse am Soldatenberuf zu stimulieren. Zudem wurde die Mannschafts- und Unteroffizierslaufbahn völlig neu geordnet, unter anderem die neuartige Funktion des "Fachunteroffiziers" eingeführt. Der kann als Spezialist dienen, ohne in herkömmlicher Weise Führungsverantwortung übernehmen zu müssen - eine elementare Bedingung für den Transfer zur Freiwilligenarmee, die solche Spezialisten in großer Zahl braucht, sobald keine Wehrpflichtigen mehr zur Verfügung stehen.

Schließlich ist auch der Erlass einer neuen Reservistenkonzeption, verbunden mit einem erheblich verringerten Verteidigungsumfang der Bundeswehr, ein weiteres Indiz für den latenten Abschied von der Wehrpflicht und des Übergangs zum Freiwilligenheer, der für den Fall, die Wehrpflicht sollte politisch gekippt werden, relativ "schmerzarm" erfolgen könnte.

Zunächst jedoch wird Peter Struck wegen der zu erwartenden Kontroversen über seinen Reformdrang temporär um Ruhe an der Wehrpflicht-Front bemüht sein. Ungeachtet dessen dürfte er jedoch daraufhin arbeiten, den Unfug, die Wehrpflicht zu erhalten, irgendwann auch für den verbohrtesten Anhänger so unübersehbar werden zu lassen, dass der Konsens zu ihrer Abschaffung quasi von selbst entsteht.

Dipl. Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er vertritt in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen.

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