Zweifellos stellt die Vorstellung, dass die Erde eine Scheibe sei, umkreist von einem Mond aus grünem Käse, eine völlig abwegige Fiktion dar. Gleichermaßen realitätsfern erscheint die Behauptung, das hierzulande - noch - existierende Wehrpflichtsystem sei gerecht. Ganz und gar nicht bestreiten hingegen lässt sich der Umstand, dass Richter mitunter hanebüchene Urteile fällen. In diese Kategorie gehört der Spruch des Bundesverwaltungsgerichts Leipzig in der Causa Pohlmann vom 19. Januar 2005. Der Kläger hatte seiner Einberufung zum Wehrdienst widersprochen, da er sie für willkürlich und daher als unvereinbar mit dem im Grundgesetz normierten Gebot der Gleichbehandlung hielt. Pohlmanns Begründung: Derzeit leisteten nur noch etwa 25 Prozent der jungen Männer eines Geburtsjahrganges tatsächlich ihren Wehrdienst - ein weiteres Viertel stehe als Kriegsdienstverweigerer im zivilen Ersatzdienst, während nahezu die Hälfte vom Zugriff des Staates unbehelligt bleibe.
Es gehört schon ein gerüttelt Maß an Chuzpe dazu, diesen zu Recht monierten Zustand als vereinbar mit dem Erfordernis der Wehrgerechtigkeit zu bezeichnen, wie in Leipzig geschehen. Dabei ist noch gar nicht berücksichtigt, dass sich dieser himmelschreiende Zustand unvermeidlich stetig verschlimmern wird. In Zukunft sinkt der Bedarf an Wehrpflichtigen wegen der beschlossenen Streitkräftereduzierung drastisch - von momentan etwa 140.000 Grundwehrdienstleistenden pro Jahr auf letztlich nur noch 55.000. Das bedeutet, dann werden noch maximal 13 Prozent eines Geburtsjahrganges Militärdienst leisten müssen.
Den Richtern am Bundesverwaltungsgericht muss dieser Sachverhalt durchaus bewusst gewesen sein, als sie ihr Urteil fällten, haben sie doch darin konzediert: ein verminderter Bedarf der Bundeswehr an Wehrpflichtigen könne dazu führen, "dass sich zwischen der Zahl der für die Bundeswehr verfügbaren und der tatsächlich einberufenen Wehrpflichtigen eine Lücke auftut, die mit dem Grundsatz der Wehrgerechtigkeit nicht mehr vereinbar ist". Messerscharf folgern daraus die Leipziger Richter, dass "unter solchen Voraussetzungen der Gesetzgeber reagieren muss, um durch eine Neuregelung der Verfügbarkeitskriterien oder auf andere Weise für verfassungsgemäße Zustände zu sorgen".
Ganz in der unseligen Tradition eines Rechtspositivismus, der schon immer der Auffassung war, dass aus Gründen der Staatsräson jegliche Schweinerei erlaubt sei, wenn sie denn nur in Gesetzesform gegossen wäre, manifestiert sich in diesem spröden Juristendeutsch der eigentliche Skandal des Urteils von Leipzig. Darin wird unverhüllt dazu aufgefordert, zur Rettung des überkommenen Wehrsystems mittels Manipulation der Einberufungskriterien die Zahl der zum Wehrdienst tauglichen jungen Männer so zurechtzubiegen, dass sie immer dem gerade aktuellen Bedarf der Streitkräfte entspricht. Da jene dann ja auch tatsächlich zur Ableistung des Wehrdienstes eingezogen werden können, ist formaljuristisch immer Wehrgerechtigkeit garantiert.
Exakt diesem Kalkül folgte das Bundesministerium der Verteidigung - mit seiner Einberufungspraxis dem Richterspruch quasi vorauseilend - bereits seit Jahren: So wurde beispielsweise die Altersgrenze, um zum Wehrdienst gezogen zu werden, vom 25. auf das 23. Lebensjahr gesenkt, sahen sich Verheiratete oder in gleichgeschlechtlichen, eingetragenen Partnerschaften Lebende befreit und mussten sogenannte T 3-gemusterte Wehrpflichtige nicht einrücken. Einen Ausschlussgrund stellt auch der Konsum von illegalen Drogen dar, weshalb in Kreisen wehrdienstferner Jugendlicher die Parole kursiert: "Am Morgen ein Joint und Struck ist dein Freund."
Ein Blick in die Statistik offenbart, wie sich die Zahl der Wehrpflichtigen mittels der politisch motivierten Vorgaben für die Tauglichkeitskriterien steuern lässt: So vermehrte sich nach Inkrafttreten einschlägiger gesetzlicher Regelungen am 1. Oktober 2004 quasi über Nacht die Zahl der zum Wehrdienst Untauglichen auf wundersame Weise von 710.357 auf 993.175 - ein Plus von sage und schreibe 282.818 Mann. Das vom Gesetzgeber zu beachtende Willkürverbot hinsichtlich der normativen Ausgestaltung der Wehrpflicht ebenso ignorierend wie die einschlägige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dürften die Leipziger Verwaltungsrichter dem Fortbestand der Allgemeinen Wehrpflicht indes einen Bärendienst erwiesen haben. Denn die Debatte um die künftige Wehrform ist nun erst recht entbrannt.
Als Reformalternative zum bisherigen System favorisiert wird derzeit das sogenannte "Dänische Modell" - ein Angebot zum Kompromiss zwischen Anhängern der Wehrpflicht und Befürwortern einer Freiwilligenarmee. In der Konsequenz würde die Bundeswehr zur Freiwilligentruppe mutieren. Als Rückversicherung für den Fall, dass sich nicht genügend Freiwillige für den Militärdienst melden, bliebe die Möglichkeit, über ein Losverfahren zwangsweise Wehrpflichtige zum Wehrdienst einzuziehen. Um die Dienstbereitschaft zu fördern, soll darüber hinaus nach französischem Vorbild ein sogenannter "Tag der Streitkräfte" eingeführt werden, an dem die Bundeswehr für einen freiwilligen Dienst in ihren Reihen wirbt. Der Termin wäre obligatorisch für alle jungen Männer und Frauen eines Geburtsjahrgangs. In Frankreich stellt man die erwünschte Präsenz dadurch sicher, dass ohne offizielle Teilnahmebestätigung keine Fahrprüfung abgelegt werden kann.
Das von Wehrpflichtgegnern umjubelte "Dänische Modell" weist jedoch einen nicht unerheblichen Nachteil auf: Es wäre nämlich schlichtweg verfassungswidrig, weil dadurch die grundsätzlich für alle jungen Männer geltende Allgemeine Wehrpflicht durch eine Auswahl-Wehrpflicht für einige wenige auf Grundlage eines zufälligen und höchst willkürlichen Losverfahrens ersetzt würde. Dies aber verstieße gegen das in Artikel 3 des Grundgesetzes verankerte Verfassungsgebot der staatsbürgerlichen Pflichtengleichheit, das unabdingbar auch die Wehrgerechtigkeit einschließt. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner ständigen Rechtsprechung zu Wehrpflicht und Wehrgerechtigkeit hierzu ausgeführt: "Aus dem Verfassungsgebot der staatsbürgerlichen Pflichtengleichheit in Gestalt der Wehrgerechtigkeit ergibt sich somit die Verpflichtung des Gesetzgebers, Vorsorge zu treffen, dass nur derjenige von der Erfüllung der Wehrpflicht als einer gemeinschaftsbezogenen Pflicht hohen Ranges freigestellt wird, der nach Art. 4 Abs. 3 Satz 1 GG eine Gewissensentscheidung gegen den Kriegsdienst mit der Waffe getroffen hat."
Der renommierte Verfassungsrechtler Professor Knut Ipsen schließt daraus folgerichtig, es widerspreche offenkundig dem Verfassungsgebot der staatsbürgerlichen Pflichtengleichheit, "in der Verfassung die allgemeine Wehrpflicht beizubehalten und auf einfachgesetzlicher Ebene einen Auswahlwehrdienst zu exekutieren." Ein Gutachten, erstellt vom Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages, aus dem Jahr 2003 kommt exakt zum gleichen Resultat. Dort heißt es: "Eine Relativierung der allgemeinen Wehrpflicht durch eine sog. Auswahlwehrpflicht wäre - auch im Wege einer Verfassungs- oder Gesetzesänderung - im Hinblick auf den fundamentalen Gleichheitssatz in Verbindung mit dem Rechtsstaats- und Sozialstaatsprinzip (Art.3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20, 79 Abs. 3 GG) verfassungswidrig bzw. nichtig."
Wer in Kenntnis dieses Sachverhalts die mit dem "Dänischen Modell" unausweichlich verbundene Auswahl-Wehrpflicht gutheißt, begibt sich somit auf sehr dünnes Eis. Eine derartige Lösung erwiese sich nur solange als tragfähig, solange keiner der gegebenenfalls Zwangsverpflichteten vor dem Bundesverfassungsgericht klagt. Im Interesse sowohl der Streitkräfte als auch der betroffenen jungen Männer erscheint es daher an der Zeit, den längst überfälligen Schritt zur Abschaffung eines anachronistischen Zwangsdienstsystems zu tun.
Dipl. Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er vertritt in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen.
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