Eine Einbettung des blitzkriegsartig eroberten Irak in das Imperium Americanum liege keineswegs im Interesse Europas. Im Gegenteil "ein desaströses Scheitern der imperialen Ambitionen" Washingtons erscheine notwendig - so die zentrale These im ersten Teil des Essays von Jürgen Rose über eine eigenständige Sicherheitspolitik EU-Europas jenseits atlantischer Verpflichtungen (s. Freitag 52/2003: "Den Bruch riskieren"). Der Autor begründete seine Position mit der "unschätzbare(n) geo-ökonomische(n) und -strategische(n) Schlüsselposition", in die sich die USA mit der Eroberung des Irak gebracht hätten. Das berühre Europa nicht nur, sondern treffe es in seinen elementaren Interessen, handle es sich doch um die fortgesetzte "ökonomische Kolonisierung des Planeten mit militärischen Mitteln", der man "unter allen Umständen" entgegenwirken müsse. Wünschenswert sei daher ein "erzwungener Rückzug" der USA, "dessen psychologische Folgen der Niederlage in Vietnam" nahe kämen.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Kofi Annan in seiner diesjährigen Neujahrsbotschaft scharfe Kritik an den USA geübt hat. War er es doch, der von der "einzigen Supermacht" einst gegen den ungeliebten Ägypter Boutros Boutros-Ghali als UN-Generalsekretär durchgesetzt wurde. Und nun führt der Protegierte die Zerrissenheit der Weltgemeinschaft auf den von der Bush-Administration entfesselten Irak-Krieg zurück. Die wahren Probleme auf dem Planeten wie "bittere Armut und Hunger, gesundheitsgefährdendes Trinkwasser, Zerstörung der Umwelt" seien unterdessen - so beklagt Annan - aus dem Blick geraten. Aber diese Gefahren töteten "jedes Jahr Millionen und Abermillionen von Menschen. Sie zerstören Gesellschaften." Anstatt die internationale Gemeinschaft zu spalten, sei es höchste Zeit, "mehr von unserer Energie für das Wohlergehen der Menschen aufzuwenden". Annans Appell könnte der Europäischen Union ein weiterer guter Grund dafür sein, nicht in blinder Solidarität einer zum Scheitern verurteilten Irak-Politik der USA hinterher zu laufen, sondern ihn mehr denn je als Anstoß für die Definition einer eigenständigen sicherheitspolitischen Strategie aufzufassen, um den überbordenden imperialen Ambitionen der USA entschlossen entgegen zu treten. Denn nur ein multipolar strukturiertes internationales System würde eine Chance bieten, im Sinne des UN-Generalsekretärs wirksam zu werden. Nur so ließe sich auch eine Weltwirtschaftsordnung aus den Angeln heben, die nahezu ausschließlich zum Vorteil des Welthegemons funktioniert.
Vielleicht der Beginn einer "wunderbaren Freundschaft"
Wenn Amerika geo-ökonomische Konkurrenz bevorzugt mit militärischen Mitteln austrägt, sollte Europa mit adäquaten Wirtschafts- und Handelsstrategien reagieren, indem es beispielsweise versucht, das nach dem Nahostkrieg von 1973 etablierte Petrodollar-Kartell der USA aufzusprengen. Gelänge es, mit Iran und Irak exklusive Beziehungen aufzubauen und beide Länder zu bewegen, ihr Öl nur noch in Euro zu fakturieren, wäre dafür eine entscheidende Ausgangsbasis geschaffen, die durch eine Einbeziehung Libyens noch befestigt werden könnte. Mit diesem von den USA jahrzehntelang als "Schurkenstaat" diffamierten Land unterhalten etliche Staaten Europas ohnehin bereits konstruktive Beziehungen. Unentbehrlich für eine solche Strategie wäre Russland, das über seine spezifischen Interessen gewonnen werden könnte. West- und Mitteleuropa brauchen aus Russland zuvörderst Rohstoffe, Öl und Erdgas. Die Russische Föderation benötigt im Gegenzug Kapital und Technologie für die Modernisierung des Landes und dürfte daher einem Assoziierungsvertrag mit der EU durchaus aufgeschlossen gegenüberstehen - vielleicht der Beginn einer "wunderbaren Freundschaft". Auch sollten die Westeuropäer mit Blick auf das dramatisch vernachlässigte Instrumentarium friedlicher Konfliktbewältigung das russische Interesse an der OSZE wieder stärker schätzen lernen. Verglichen mit den USA, deren Interesse an der OSZE gegen Null tendiert, scheint Russland ein in dieser Hinsicht erheblich verlässlicherer Partner. Würde also die EU privilegierte Beziehungen zu den Öllieferstaaten Iran, Irak und Libyen aufbauen sowie eine strategische Partnerschaft mit Russland eingehen, könnte dies den Anfang vom Ende des Imperium Americanum einläuten. Die Tage für den exklusiven Status des US-Dollars als Weltleitwährung wären gezählt, der Euro käme als funktionales Äquivalent in dessen Position, so dass ein jähes Abschwellen des Kapitalstroms in Richtung USA - derzeit liegt er bei anderthalb Milliarden Dollar pro Tag - unvermeidlich wäre. Damit gerieten die USA als weltgrößter Schuldner in eine prekäre ökonomische Abhängigkeit von ihren Gläubigern in Europa und Asien. Nach fast 60 Jahren globaler ökonomischer Dominanz der USA seit dem Ende des II. Weltkrieges böte sich Europa erstmals die reale Aussicht, den Spieß umzudrehen und nunmehr seinerseits die Außen- und Wirtschaftspolitik der USA zu beeinflussen. Nicht mehr die Federal Reserve mit Alan Greenspan, sondern die EZB mit Jean-Claude Trichet fungierte als Taktgeber der internationalen Finanz- und Währungspolitik.
"Ich weiß, dass die Vereinigten Staaten jeden Krieg gewinnen, den sie führen, gegen jedes Land. Wenn der Kolonialismus nicht aus der Mode gekommen wäre, würden wir bestimmt den ganzen Nahen Osten übernehmen, die Ölreserven nicht nur schützen, sondern sie uns nehmen: Wir sind hier, um Ihnen mitzuteilen, dass dies nicht mehr Ihr Land ist, vielen Dank für Ihre Mitarbeit, Einzelheiten erfahren Sie später."
Anthony Swofford, Ex-Militär und freier Autor in "Jarhead", Köln 2003
Der überragende Effekt einer solchen Strategie resultiert aus dem Umstand, dass die USA mit ihrem Potenzial als Supermacht unmittelbar auf den Erhalt der gegenwärtigen Weltwirtschaftsordnung angewiesen sind - sie allein garantiert die ökonomische Ressourcen, die für einen gigantischen US-Militärapparat unverzichtbar sind. Zur Zeit liegt das jährliche Leistungsbilanzdefizit, das die USA im globalen Austausch von Waren, Dienstleistungen und Kapital erzielen, bei etwa 500 Milliarden Dollar, während ihr jährliches Rüstungsbudget 400 Milliarden Dollar erreicht hat. Vereinfacht gesagt: Der Rest der Welt finanziert den Amerikanern die Fähigkeit zu imperialer Machtentfaltung mit und legt sogar noch 100 Milliarden Dollar drauf, um die Kosten der Kriege auffangen zu helfen, die von den USA primär mit dem Motiv geführt werden, diese Weltwirtschaftsordnung beizubehalten. In dem Maße, wie es gelingt, die Strukturen dieses Systems zu ändern, werden die Amerikaner das bei ihren globalen Ambitionen zu spüren bekommen. Für eine EU, die sich vom Vasallenstatus gegenüber der Hegemonialmacht befreien will, folgt daraus: der Königsweg, dieses Ziel zu erreichen, kann mitnichten darin bestehen, selbst Status und Potenz einer globalen Militärmacht anzustreben, sondern vornehmlich dank Diplomatie und wirtschaftlicher Stärke eine eigene geo-ökonomisch fundierte Globalstrategie zu entwickeln.
Vielleicht die Stunde der "Pralinenmächte"
Folgt Europa einem solchen Konzept, wird die traditionelle NATO obsolet, stattdessen erscheint das von den - despektierlich "Pralinenmächte" genannten - EU-Ländern Frankreich, Deutschland, Belgien und Luxemburg auf den Weg gebrachte Projekt einer Europäischen Verteidigungsunion als sinnvolle Alternative. Deren Kernfunktionen sollte allerdings darauf beschränkt werden, einen möglichen Guerillakrieg islamischer Extremisten abzuwehren, sofern dieser auf EU-Territorium übergreift, sowie Krisengebiete zu stabilisieren, wenn es dafür eindeutige Mandate von UNO oder OSZE gibt. Zu klären wäre, inwieweit sich die Potenziale einer Europäischen Verteidigungsunion zum Zwecke internationaler Konfliktvorbeugung strategisch gegen potenzielle US-Interventionen in Partnerregionen der EU positionieren ließen - conditio sine qua non hierfür wären Völkerrechtskonformität sowie das politische Einverständnis der betroffenen Staaten. Repräsentiert werden müsste diese neue Europäische Verteidigungsidentität in erster Linie durch Frankreich, während Deutschland nicht zuletzt wegen seiner katastrophalen Militärhistorie bewusst seine gewachsene Kultur der Zurückhaltung pflegen sollte. Aus deutscher Perspektive erscheint eine französische Führung allein schon deshalb als unproblematisch, weil sich Deutschland mit Frankreich als europäischer Mittelmacht ohnehin bereits auf gleicher Augenhöhe befindet, und Paris - will es seine Rolle im Konzert der EU-Mitglieder erfolgreich ausüben - stets auf den Rückhalt aus Berlin angewiesen bleiben wird. Somit können die französischen Bäume kaum bis in den Himmel wachsen. Die beschriebene neo-gaullistische Konzeption mag für den Rest Europas auf den ersten Blick wenig attraktiv sein. Andererseits: je zahlreicher die Mitgliedschaft einer solchen Verteidigungsunion desto größer die Gewähr, eine unerwünschte französisch-deutsche Dominanz verhindern zu können. Wünschenswert für die sicherheitspolitische Balance Europas wäre es, wollten vor allem Großbritannien und Polen mit in dieses Boot steigen. Einer so strukturierten EU, ausgestattet mit diplomatischer Fortune, Wirtschaftspotenzial und einem äußerst moderat dimensionierten Verteidigungsarsenal, gestützt auf eine strategische Allianz mit der Russischen Föderation sowie ein Netzwerk vorteilhafter politischer und ökonomischer Beziehungen zu den Staaten der islamischen Welt, sollte es gelingen, Unabhängigkeit und Selbstbestimmungsrecht Europas gegenüber der imperialen Hybris jenseits des Atlantiks zu wahren. Für traditionalistische Atlantiker drüben in den USA wie in Europa mag ein solcher Gang der Dinge ein Alptraum sein. Doch hieße die Alternative, weiter die Augen vor der enormen Gefahr zu verschließen, die vom Oval Office in Washington ausgeht, und früher oder später an der Seite der Imperialmacht mit in die Globalisierungskriege der Zukunft ziehen zu müssen.
Dipl. Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er vertritt in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen. Diese können mitunter durchaus von der offiziellen Politik des Bundesministeriums der Verteidigung abweichen.
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