Ich wollte der Letzte sein. Drei Minuten vor Kassenschluss um 18 Uhr zeigte ich meine Dauerkarte vor. Die Kassiererin winkte ab. Den Nachsaisonzuschlag schenke sie mir. Zwei ältere Damen, Stammgäste und Mitglieder im "Verein der Freunde des Freibades Hausen", standen an der Drehtür und knabberten Kaffeeschokopralinen. Die eine hatte einen Handtuchturban gebastelt, um dem widrigen Wetter zu trotzen, die andere lachte.
Sie wünschten mir viel Spaß, als der Zeitungskollege erschien. Ihn hatte ich hier noch nicht gesehen, und er war leider langsamer. "Mist, ich bin doch nicht der letzte", murrte ich. Die beiden Frauen grinsten. Einige der Dauerbesucher, die am Sonntag das Freibadsaisonfinale bestritten, gruppierten sich unter dem Vordach des Umkleidekabinen- und Schließschrankbereichs und planten plaudernd die Wintersaison.
Das Frankfurter Freibad Hausen ist wohl das letzte seiner Art. Es ermangelt ihm an jedem Schnickschnack, jedem überflüssigen Event-Environment, jedem Fun-Tinnef. Es ist altmodisch in einem guten, unbelasteten Sinn. Es dient den Schwimmern, und die Schwimmer, diejenigen, die schwimmen wollen und nicht "schwimmen gehen", weil die Sonne herunterbrät, danken es ihm. Sie bevölkern das in der Länge knapp fünfundzwanzig Meter messende Schwimmerbecken unter allen Umständen, und sei´s, dass es Katzen und Hunde regnet.
Es war hundekalt am Sonntag. Den letzten beißt der pfeifende Wind. Geschätzte Stärke 4. 9,5 Grad Außentemperatur. Im Becken, im schwerelosen Blau, unvermindert und ein letztes Mal dieses Jahr: 25 Grad.
Der wunderbare Kiosk namens "Imbiss - Erfrischungen", der schönste Ort Frankfurts, ein Refugium der reulosen Faulenzer, das vier vorbildlich langsame Fachkräfte für Bratwurst, Bier und Haribo bewirtschaften, war schon vor Wochen geschlossen worden.
Früher, erzählt man, hielt das Hausener seine Tore bis Mitte November offen. Siegfried Unseld schwamm hier jeden Morgen, sein Sohn schwamm mich mal über den Haufen. Jetzt, am Finaltag der Badezeit 2002, machte mir nur ein ziellos herumkeulender Bahnnachbar zu schaffen.
Das Wasser ist merkwürdig, aufgewühlt bis in tiefere Schichten. Das diesige Licht erschwert die Orientierung. Die Bahn zu halten, fällt nicht leicht. Der Wind drückt herein, quetscht das Wasser auseinander und verwirbelt die Strömung, auf der man sonst durch die eigenen Armzüge und Beinbewegungen mählich bewusstloser dahinzufließen beginnt, ungefähr nach fünf-, sechshundert Metern.
Ich begann zuviel nachzudenken, über die elende Distanz, die Anzahl der Bahnen, die ich noch runterreißen wollte. Ein Kurzprogramm von tausend Metern musste daher reichen. Beim Ausschwimmen friert der Kopf. Ich stieg aus dem Becken, warf den Pullover über und blickte mich um.
Eigentlich waren sie alle da. Eigentlich kenne ich niemanden von ihnen, aber ich kenne sie alle: den robusten Langstreckenkrauler und den Ein-Bahn-Sprinter, die Kommunikationsschwimmer, den Kopf immer über Wasser und immer einen Schwank aus der Nachbarschaft in petto, und die stoisch in sich versunkenen und beinahe versinkenden peripatetischen Paddler.
Nur einer fehlte beim Hausener Finale - ein alter, kleiner, klapperdürrer Mann, der gewöhnlich kurz vor Kassenschluss aufkreuzt, zum Beckenrand tapst, dort erst mal meditativ und drogenintensiv eine Kippe qualmt, sich danach umständlich-ungeniert vor aller Schwimmer- und Damenaugen umzieht, anschließend zehn Minuten Bahnen zieht und hinterher gemütreich-gemütlich duscht, um währenddessen all seinen unbekannten Kumpeln zu erzählen, wie prima es heute wieder gewesen sei. Erfrischt und benetzt wie ein ehrwürdiger, etwas ausgedörrter Rebstock wirkt er dann. Seinen Namen kenne ich nicht, leider.
Nächsten April geht es wieder los. Bis dahin dräut das wahre Chlorpurgatorium - in den Hallenbädern, die obendrein so irreführend verlockende, sonnen- und freudenreich assoziative Namen wie "Rebstockbad" tragen. Ich hoffe doch sehr, den agilen Alten im April wiederzusehen. Wahrscheinlich war es ihm am Sonntag einfach zu garstig.
Rosa, stahlgrau und schmalblau schichtete sich der Himmel. Die Pappeln trugen noch volles Grün, drum herum gewann fahles Gelb überhand. Eine Stimmung wie in Charles Ives´ Central Park in the Dark, vielleicht; fröhlich-unruhig, schön-bedrohlich. Die Putzfrau leerte die Müllkübel, über das Becken wurde die silberne Abdeckung gezogen. Der Wind nahm weiter zu. Eine Frau und ein Mann, mutig halbnackert, ohne Bademäntel, rannten als letzte über die Wiese zu den Umkleiden. Ich schnürte die Schuhe, und die durchtrainierte Dame friemelte jetzt neben mir den Schlüssel ins Schloss. "Schade, dass es schon vorbei ist", sagte sie.
Auf dem Parkplatz standen vier Frankfurter, ein Engländer, ein Darmstädter und ein Bad Homburger Pkw. Ich ließ mich auf den Sitz meines Wagens fallen und rauchte eine magische Zigarette zugunsten des Alten. Währenddessen fuhren zwei Frankfurter los.
Ich musste nicht der Letzte sein und machte mich vom Acker. Auf dem Heimweg färbte sich, pünktlich um 19 Uhr, der Himmel zusehends schwärzer, als verfluche er die Stadtverwaltung, die die Hausener Saisonsause so früh für beendet erklärt hatte.
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