Der Videotextmönch

Siegfried Kracauer bezeugte 1930 folgendes Gespräch auf einer Arbeitsvermittlungsstelle: "Ein Mann beschwert sich bei einem Beamten: ›Nun bin ich ...

Siegfried Kracauer bezeugte 1930 folgendes Gespräch auf einer Arbeitsvermittlungsstelle: "Ein Mann beschwert sich bei einem Beamten: ›Nun bin ich ein Jahr ohne Arbeit und habe die Stelle doch nicht bekommen.‹ - ›Aber der andere ist schon anderthalb Jahre arbeitslos‹, wird ihm erwidert." Also bekommt der seit anderthalb Jahren brotlose Chauffeur die Stelle. Kracauer kommentiert: "Ein Bescheid von bündiger Klarheit, der auf Grund der Bestimmung erfolgt, dass sich bei gleicher Eignung die Vermittlung nach der Dauer der Arbeitslosigkeit zu richten habe."

Herr W. hat dem Anderthalbjährigen im Jahr 2003 einiges voraus. Er ist hochqualifiziert und muss sich zu den Überzweijährigen zählen. Gäbe es eine Stelle für ihn, gäbe es auch Gerechtigkeit. Weil es keine Stellen gibt, gibt es auch keine Gerechtigkeit. Die Lage ist klar, die Einschätzung bündig. Auf dem Amt, sagt Herr W., habe er im Grunde nicht mehr viel verloren. Es sei für ihn auf dem Amt nichts zu holen.

In einer solchen Lebenslage fällt es schwer, originell zu sein. Etwas aus seinem Leben zu machen, das ist leicht gesagt. Herr W. spielt Lotto, das tun viele, nicht nur Arbeitslose. Herr W. pflegt darüber hinaus aber eine Passion, und dieser Leidenschaft widmet er sich seit über einem Jahr, ohne dass er sich einschränken müsste.

Nachdem Herr W. länger als ein Jahr vergeblich gehofft und versucht hatte, wieder Arbeit zu finden, begann er, neben Zeitungsausschnitten und Internetnews über seine Lieblingsband auch Nachrichten zu sammeln, die aus der letzten speicherlosen Medienquelle quillen.

Herr W. begann, Meldungen aus dem Videotext abzuschreiben. "Wenn Bill Wyman noch ein Kind bekommt", sagt Herr W., "dann sehe ich täglich mehrmals nach." In "Spitzenzeiten" zappt er tagsüber zwei oder dreimal und noch einmal nachts durch die Videotexte von RTL, Sat.1, Pro 7, ZDF, VIVA, N 24 und n-tv. "ARD ist fakultativ, RTL 2 nur hin und wieder, VOX fast gar nicht. MTV ist übrigens", sagt Herr W., "identisch mit RTL. Und von MTV speist sich wiederum VOX ab."

Mönche waren die bedeutendsten Kopisten der jüngeren Kulturgeschichte. An ihrer langwierigen Abschreibetätigkeit wird deutlich, dass ein mönchisches Leben - jenseits der strengen Betregularien und der Klostergartenplackerei - Arbeit war. Mönche waren, auch wenn das protestantische Industrieleben das rückblickend anders erscheinen lässt, keine Müßiggänger, so sehr sie wandelten und in sich ruhen mochten.

"Ich hab´ keine Tageszeitung, also schau´ ich morgens erst mal Nachrichten auf dem Videotext, und dann muss ich mich updaten", sagt Herr W. Updaten in Sachen Stones. Täglich. Wer mit Muße ein Buch liest, verhält sich anders. Schrift ist ihm ein Sinngebilde, gefügte, begrenzte Welt, nicht zerhackte, endlos redundante Information. "Ich notiere", sagt Herr W., "auf Papier, und dann gebe ich das in den Computer ein. Wenn ich endlich renoviert habe, stelle ich den Schreibtisch so, dass ich direkt auf den Fernseher gucken kann. Dann geht es leichter."

Manchmal weichen die Meldungen aus den Videotextredaktionen bloß um Nuancen voneinander ab, "und dann", sagt Herr W., "artet es richtig in Arbeit aus. Ich kann nichts weglassen." Vielleicht kommt ja "Kunst", "art", von "ausarten". Und vielleicht verleiht Herrn W. die mönchische Videoabtextdisziplin einen Halt, eine Tagesstruktur.

Gerecht wäre, erhielte Herr W. für sein unterdessen umfängliches Kopistenkonvolut einen Buchvertrag, der medienarchäologische Schätze rettete - und der, da es in dieser Gesellschaft keine Gerechtigkeit mehr gibt, wenigstens moralisch hochgerechtfertigt wäre. Als hochdotierter.


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