Maxim Gorkis Kinder der Sonne erzählt von einem Bürgertum, das nur um sich selbst kreist, aber unverdrossen Pläne zur Rettung der Menschheit schmiedet. Wohlstand und das eigene Glück sind dabei so selbstverständlich wie unverzichtbar, während außerhalb des sonnenbeschienenen Elfenbeinturms eine Pandemie Todesopfer fordert und soziale Verwüstungen anrichtet. Ein durch und durch aktueller Stoff, den der Regisseur Simon Stone 2021 für das Wiener Burgtheater inszeniert hat.
Alva Notos Album Kinder der Sonne ist die Musik zu diesem Theaterabend – betont leise, oft geisterhaft schwebend, bisweilen beklemmend. Hinter dem Pseudonym Alva Noto verbirgt sich der in Chemnitz geborene bildende Künstler Carsten Nicolai, der in seinen Installationen
er in seinen Installationen auch mit dem Zufall und selbstorganisierenden Prozessen arbeitet. Seine Musik vergleicht der 57-Jährige mit einem Rorschachtest: Der eine erkennt in den Mustern dies, die andere das – denn es sei immer die Perspektive des eigenen Unterbewusstseins, die beim Hören übernimmt. Kinder der Sonne besteht aus Klangbildern und sachten Tonfolgen – die dazugehörigen Geschichten erzählen die Hörer sich selbst.Etwas scheint in AuflösungEine solche Musik in gängige Schubladen zu pressen, ist schwer – egal ob man das nun Ambient, Soundtrack, Minimal Music oder zeitgenössische Klassik nennt. Bei den großen Plattenfirmen werden solche Genres oft im einstigen Klassik-Segment betreut. Wen wundert’s also, dass Alva Noto vor zwei Wochen im großen Saal der Hamburger Elbphilharmonie aufgetreten ist, zusammen mit dem Stargaze Ensemble des Dirigenten André de Ridder? Dazu hat er gerade mit Martin Gore von Depeche Mode die Single Subterraneans veröffentlicht, und Alva Notos erster Soundtrack ist Kinder der Sonne auch nicht. Die Filmmusik zu The Revenant – eine von vielen Zusammenarbeiten mit dem kürzlich verstorbenen Ryuichi Sakamoto – wurde sogar für einen Golden Globe nominiert.Alva Noto arbeitet wie ein Wissenschaftler, der den Prozess der Klangverarbeitung ausgesprochen ernst nimmt. Bei den Veröffentlichungen der Xerrox-Reihe – ein Kunstwort aus „Xerox“ (die Kopiererfirma) und „Error“ (Irrtum) – geht es um Tonfolgen, die so lange hin und her kopiert werden, bis das Ausgangsmaterial nicht mehr erkennbar ist. Das funktioniert mit einer eigens geschriebenen Software, die für einen fehlerhaften digitalen Kopiervorgang sorgt. Der Algorithmus denkt sich dann etwas aus, um die Lücken zu füllen. Das hört sich jetzt sehr konzeptuell an, führt aber im Ergebnis zu einer hinreißend schönen und emotional ansprechenden Musik.Durch die Einbindung in ein dramaturgisches Konzept ist Kinder der Sonne etwas vielseitiger als die vier Alben der Xerrox-Reihe. Die Untergründigen startet mit Piano-Tönen, die von filigranen Klangflächen umspült werden, für eine langsame Fahrt auf einem Ozean aus Sound. Aufstand dagegen setzt auf unheilvolle Akkorde und Stimmengewirr im Hintergrund, etwas scheint in Auflösung, Erregung ist spürbar. Unwohl klingt tatsächlich nach Krankheit und sanft pingenden medizinischen Geräten. Eine eigenwillige Traurigkeit liegt über alldem. Folgt man Gorkis Theaterstück, ließe sich resümieren: Etwas passiert hier und jetzt, aber das Bürgertum hat offenbar wieder mal keine Ahnung, was es ist.Placeholder infobox-1