„Wir alle stehen an einem Punkt, wo wir uns fragen: Wie geht es weiter?“

Interview Signa und Arthur Köstler setzen Besucher:innen ihrer Performances in Extremsituationen. In „Die Ruhe“ darf sich das Publikum vom Kapitalismus regenerieren und Wald werden
Ausgabe 46/2021

Brutalismus nennt sich der Stil, in dem das Paketpostamt Altona in den frühen 1970er-Jahren erbaut wurde. Eine Trutzburg der späten Betonmoderne. Vor drei Monaten haben sich Signa und Arthur Köstler, besser bekannt als SIGNA, hier mit zwei Dutzend Schauspielern in einem schwermütig aussehenden Nebengebäude einquartiert. Und nun eröffnet die Performancegruppe, in Zusammenarbeit mit dem Hamburger Schauspielhaus, hier ein „neuartiges Regenerationszentrum“ namens Die Ruhe. „Geneigten Klient*innen“ wird ein fünfstündiger Aufenthalt angeboten.

Doch noch sitzt das dänisch-österreichische Künstlerpaar auf einer durchgesessenen Sperrmüllcouch im Wohnzimmer ihrer temporären Kunst-WG. Signa trägt ein dunkles, osteuropäisch wirkendes Strickensemble und denkt schnell und in alle Richtungen. Ihrem hochgewachsenen Ehemann Arthur ist immer noch anzusehen, dass er vor über 20 Jahren mal Frontmann einer Post-Punk-Band war. Im Unterschied zu den Rollen, die sie oft spielen, wirken die beiden ungeheuer sympathisch.

der Freitag: Frau Köstler, Herr Köstler, seit 20 Jahren bewegen Sie sich mit SIGNA im Grenzgebiet zwischen Kunst und Theater, meist in leer stehenden Gebäuden und Brachen. Wo fühlen Sie sich mit Ihren Performance-Installationen am ehesten zu Hause?

Signa Köstler: Wir haben nie ein Stück auf einer Bühne gemacht. Dafür haben wir weder den Hintergrund noch die Fähigkeit. Deshalb hat das, was wir machen, auch nie etwas damit zu tun, die Wand zwischen Bühne und Zuschauern zu durchbrechen.

Arthur Köstler: Es geht uns weder um die vierte Wand noch darum, den Intimbereich zu berühren oder irgendwelche Grenzen zu überschreiten. Es geht um den Stoff, den wir machen, und das individuelle, persönliche Erleben dieses Stoffs. Wir stecken immer noch zu sehr in einer Diskussion über die Form. Dabei es ist wie bei einer E-Gitarre: Der Sound ist egal, wenn der Song nicht gut ist.

Zur Person

Signa und Arthur Köstler, gebürtig in Aarhus und Gmunden, gründeten 2004 in Kopenhagen die Performancegruppe SIGNA. Sie erarbeiten ortsspezifischen Installationen , die Besucher:innen dorthin schicken, wo es wehtut – das gilt auch für Die Ruhe

Taugt der zur Zeit viel verwendete Begriff Immersion, um Ihre Arbeit zu beschreiben?

Signa: Man hat uns auch schon als Total-Theater und Event-Theater gelabelt. Irgendwann, und das ist lange her, war ich durch mit diesem Wirklichkeit-Fiktions-Gerede, das hat eine verflachende Wirkung. Innerhalb des Rahmens, den wir schaffen, hat das Publikum ja eigene Erlebnisse – und die sind echt. Wenn ich ein griechisches Restaurant betrete oder das Arbeitsamt, gehe ich ja auch rein in eine Fiktion. Das ist auch immersiv.

„Die Ruhe“ heißt Ihre mittlerweile vierte Inszenierung für das Hamburger Schauspielhaus. „Ziel ist die umfassende Erholung von Trauma, Erschöpfung und Verwirrung, die nicht nur Menschen, sondern alle Lebewesen betreffen“, heißt es in der Ankündigung. Worum geht es da?

Signa: Den Hintergrund bildet die fiktive Geschichte einer Gruppe von ehemaligen Patienten, Therapeuten und Mitarbeitern der Eifelhöhen-Klinik in Nettersheim-Marmagen. Diese Rehaklinik gab es tatsächlich, sie wurde allerdings im Januar 2020 wegen gravierender Hygienemängel geschlossen. Durch ein gemeinsames mystisches Erlebnis sind diese Menschen seitdem miteinander verbunden und fühlen sich zum Wald hingezogen.

Arthur: Man könnte sagen, sie leiden unter Wald-Sucht.

Signa: Genau, und da wird es mystisch. Sie ziehen in den Wald, bilden in einem heruntergekommenen Gutshaus eine Gemeinschaft und entwickeln Reha-Anwendungen, deren Ziel es ist, der Wald-Sucht so lange nachzugehen, bis man selbst zum Wald wird.

Also eine Art dunkel-romantische Transformation, die Deutschen lieben ja ihren Wald.

Signa: Der Wald, um den es hier geht, ist nicht einfach ein Wald im konkreten Sinn, sondern auch ein seelischer Zustand. Und es ist nicht nur ein dichter, sondern auch ein dunkler Wald – ein Endpunkt. Diese Endpunkt-Gedanken schwingen im Moment überall sehr stark mit. Nicht allein wegen der Pandemie. Wir alle stehen an einem Punkt, zum Beispiel beim Klima, wo wir uns fragen: Wie geht es weiter? Auch die Erschöpfung, unter der wir alle leiden, ist ein Thema. Ich war sehr dankbar dafür, dass es zu Beginn der Pandemie unmöglich war, zu arbeiten. Das war eine längst überfällige Chance, einfach mal nichts zu tun, nichts zu produzieren. Einen Moment lang stand alles still, auch im Privaten.

Liegt in der Krankheit möglicherweise auch eine Chance?

Signa: Was ist das überhaupt, ein kranker Mensch? Es gibt heute enorm viele Menschen, die an psychosomatischen Beschwerden leiden. Aber ist das eine Krankheit oder eine gesunde Reaktion auf etwas Ungesundes, zum Beispiel Stress? Viele Rehakliniken sehen aus wie Fabriken. Da kommen Leute mit psychosomatischen Leiden, man schleust sie da durch und versucht sie zu „reparieren“, damit man sie wieder dorthin zurückbringen kann, wo sie krank geworden sind ...

Arthur: ... damit sie weiter produzieren können. Das ist ein spannender Ausgangspunkt. Aus der Reha in den dunklen Wald zu gehen, ist genau das Gegenteil von diesem „Wieder-produktiv-Werden“.

Also eine sehr direkte Kritik der Arbeitsmoral und Funktionsweise des Kapitalismus?

Arthur: Ja, klar, eine Kritik des Kapitalismus und der Produktionsgesellschaft schwingt in allen unseren Vorstellungen mit.

Es wird jetzt viel über „Wokeness“ geredet und sehr genau und streng hingeschaut, wenn es um Grenzüberschreitungen geht oder vermeintlich die Rechte von Minderheiten verletzt werden. Für Sie gehören Ambivalenzen und zwiespältige Situationen zum Tagesgeschäft – gab’s da oft Ärger?

Arthur: Von Anfang an, seit 20 Jahren.

Signa: Wie allgemein bekannt ist, habe ich früher in der Sexbranche gearbeitet und auch aus dieser Erfahrung geschöpft. Schon das hat einige provoziert. Und es gibt natürlich Leute, die sagen, die Darstellung einer Vergewaltigung – die wir gezeigt haben – ist eine Reproduktion, die Wiederholung eines Übergriffs. Aber wie kann ich mich mit einem Thema auseinandersetzen, wenn ich es nicht so zeigen darf, wie ich es erlebe? Es macht mich wütend, wenn andere mir vorschreiben wollen, wie ich als Künstlerin über eigene Erfahrungen zu sprechen habe.

Haben Sie da jüngere Beispiele?

Signa: In Das halbe Leid, vor vier Jahren in Hamburg, gab es eine Gruppe, die Rechtsradikale spielten, die haben gesprochen, wie Rechtsradikale eben sprechen. Auf der anderen Seite waren da auch ein paar Roma, die zum Teil gewalttätig waren. Da gab es ebenfalls Diskussionen. Die einen behaupteten, wir wären ein Sprachrohr für Nazis. Andere waren wütend darüber, dass wir Minderheiten als gewalttätig zeigen. Dabei war in dem Stück fast jeder auf seine Art gewalttätig – darum ging es ja: wie ein System Gewalt produziert.

Sie klingen jetzt sehr engagiert ...

Signa: Mich beschäftigt das sehr. Ich finde auch, dass #MeToo extrem wichtig war. Für mich persönlich, aber auch gesellschaftlich. Und es hat vieles gebracht! Ich finde es aber sehr sehr gefährlich, wenn man Kunstwerke pauschal und oberflächlich betrachtet und sagt: Dies und dies darf man so nicht ausdrücken, das darf man so nicht benennen und zeigen. Wenn wir nicht über bestimmte Dinge reden und unsere Erfahrungen darstellen dürfen – präzise, komplex, auch problematisch und so ambivalent, wie sie waren – dann haben wir wirklich ein Problem. Weil die Leute Angst haben. Durch das, was uns eigentlich befreien soll, entstehen Tabus. Dabei ist es wichtig, dass wir im Gespräch bleiben, auch wenn es wehtut.

Ihre Stücke sind immer auch ein Spiel, in dem Besucher und Schauspieler permanent kommunizieren und interagieren. Lässt sich so ein Abend überhaupt bis ins Detail steuern?

Arthur: Der relevanteste Winkel in dieser Diskussion ist unser Umgang mit dem Publikum: Wie weit können wir gehen, wo überschreiten wir Grenzen, sollten wir Triggerwarnungen machen? Und natürlich hat jeder Schauspieler seine eigene Verantwortung.

Signa: Manchmal passieren Fehler. Das ist richtig ärgerlich und dafür müssen wir auch die Verantwortung übernehmen. Aber an Grenzen gehen, das wollen wir schon. Wie sollen wir uns sonst erforschen, als Wesen und als Gesellschaft, wenn wir nicht unsere Grenzen untersuchen?

Die Ruhe wird am 19. November im Paketpostamt Altona uraufgeführt und läuft bis 15. Januar 2022

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