Noch zehn Minuten bis zum Auftritt. Mona Mur tauscht ihre Stiefel schnell noch gegen ein Paar mit höheren Absätzen. Hose, Bluse, Lederjacke, Haare, alles an ihr ist schwarz. Allein die knallroten Lippen leuchten wie ein Warnsignal: Stopp! „Mona Mur ist eine Projektionsfläche, eine Kunstfigur, die für Intensität steht und für ein radikales romantisches Modell“, sagt die Sängerin, die mit bürgerlichem Namen Sabine Bredy heißt und, gar nicht romantisch, seit über 30 Jahren Kampfsport betreibt. Ebenso lange singt sie Lieder, die von „120 Stichen genau ins Herz“ handeln oder von Männern, die nicht wild genug sind, um sie zu lieben, mal begleitet von dissonanten Gitarrenriffs, mal umspielt von einem Symphonieorchester.
Heute tritt sie im Berliner Astrakulturhaus auf – im Vorprogramm von Psychic TV. Kopf jener britischen Band ist die 66 Jahre alte Transgender-Künstlerin Genesis P. Orridge, einst Mitglied der legendären Tabubrecher und Industrial-Pioniere Throbbing Gristle. Mona ist selbst ein glühender Fan. Der 1.500 Menschen fassende Club ist fast ausverkauft, deshalb drängeln die Veranstalter, jetzt doch bitte schon mal anzufangen. Mona und ihre beiden Mitmusiker, der Gitarrist En Esch und der Schlagzeuger Johann Bley, machen sich auf den Weg zur Bühne.
Liebeslieder für Lumpen
Was dann folgt, ist der Albtraum jedes Performers: Der Saal ist so leer wie eine Eislaufbahn im Hochsommer. Der Großteil der Psychic-TV-Fans sitzt noch draußen im Biergarten, lediglich eine Handvoll von Besuchern steht am Absperrgitter vor der Bühne. „Euch hat man schnell durchgezählt“, sagt Mona Mur. Dann beginnt sie zu singen. Zunächst leise, dann zunehmend dramatischer: „Ich war jung, Gott, erst sechzehn Jahre. Du kamest von Birma herauf“. Es ist der Brecht/Weill-Klassiker Surabaya Johnny, ein Liebeslied für einen Lumpen und eine Art Leitmotiv im Leben der Sängerin.
1982 hat Mona Mur den Song zum ersten Mal aufgenommen. Damals war an viele Häuserwände der Slogan „Gefühl und Härte“ gesprayt. Mona verkörpert bis heute beides, mit all ihrer Kraft und Intensität, mit einer großartigen Stimme, die an Nina Hagen erinnert – aber ohne deren Hang zu Kieksern und Koloraturen. Man glaubt ihr jedes Wort, wenn sie seufzt: „Du hast kein Herz, Johnny, und ich liebe dich so.“ Immer mehr Menschen strömen jetzt aus dem Biergarten in den holzgetäfelten Saal. Viele halb so alt wie die Musiker auf der Bühne.
Tatsache ist, es interessieren sich längst nicht mehr nur grau gewordene Ex-Punks für Themen wie Wolfgang Müllers Subkultur Westberlin 1979 – 1989 (Fundus 2014) oder die vom Goetheinstitut initiierte und weltweit auf Wanderschaft geschickte Ausstellung Geniale Dilletanten. Die sperrigen bis bizarren Helden der post-punkigen 80er Jahre sind heute gefragter denn je. Viv Albertine, die ehemalige Gitarristin der britischen Band The Slits, ist mit ihrer Biografie A Typical Girl gerade erst auch hierzulande durch ausverkaufte Clubs gezogen. Und die schon erwähnte Genesis P. Orridge wurde vom Modemacher Marc Jacobs auserwählt als eines der Gesichter seiner Herbst/Winter-Kollektion 2016. Mona Mur und ihr Lebensgefährte En Esch posierten für die glamouröse Anzeigenserie des Hamburger Dandy-Labels Herr von Eden.
Es ist nicht bloß ihr Talent, das diese Künstlergeneration – viele sind heute um die 60 – so faszinierend macht. Es ist auch ihre Biografie, ihre radikale Haltung. Denn zwischen emsiger Flexibilisierung und gnadenloser Selbstoptimierung wächst die Sehnsucht nach Charakteren, die gelegentlich „Fuck You!“ sagen und es auch genauso meinen und mit voller Kraft gegen eine Wand rennen. So eine ist auch Mona Mur.
Unbunt und widersprüchlich: Mona Murs Lieblingsfarbe
Die Farbe Schwarz zählt, wie Grau und Weiß, zu den „unbunten“ Farben. Diese Bezeichnung hängt mit der menschlichen Biologie zusammen: Wenn wir von Farben sprechen, meinen wir damit unsere Sinneswahrnehmung – oder unsere Sinnesempfindung.
Was die bloße Wahrnehmung angeht, das reine Sehen, verfügt das menschliche Auge über zwei Arten von Fotorezeptoren: über helligkeitsempfindliche Stäbchen und über farbempfindliche Zapfen. Bunte Farben wie Blau, Rot oder Gelb reizen diese Zapfen in unterschiedlicher Intensität. So erkennen wir sie wieder und können sie unterscheiden. Dagegen haben unbunte Farben auf die Zapfen alle die gleiche Wirkung – das Auge nimmt nur verschiedene Helligkeitsstufen wahr, mithilfe der Stäbchen. Wie wir die Farben dann empfinden, ob als „kalt“ oder „warm“, schön oder grell, ist immer auch kulturell determiniert. In den christlich geprägten westlichen Gesellschaften gilt Schwarz als Trauerfarbe. In den buddhistisch oder shintoistisch geprägten Teilen Asiens trauert man in strahlendem Weiß. Selten sind die Farbsymboliken aber ganz eindeutig. Schwarz wird auch in hiesigen Breitengraden keineswegs nur als „negative“ Farbe interpretiert. Die konservativen Parteien CDU/CSU werden „schwarz“ genannt – aber Schwarz ist auch die Farbe des Anarchismus. In der Mode gilt das „kleine Schwarze“ als Inbegriff für Eleganz, und wenn wir mit einer Einschätzung richtig liegen, haben wir „ins Schwarze“ getroffen.
Übrigens gibt es vermutlich keinen Menschen mit wirklich „schwarzer“ Hautfarbe. Aber das ist noch einmal ein anderes – und hochkomplexes – Thema. Katja Kullmann
Am Tag nach dem Konzert sitzt die 55-Jährige in der Küche ihrer Dreizimmerwohnung in Neukölln. Das Make-up ist runter, sie wirkt entspannter als vor dem Auftritt: „Russische Lieder waren das Erste, was ich als Kind kennenlernte. Meine Mutter sang sie den ganzen Tag.“ Monas Eltern, die Bredys, stammen aus Lemberg, das heute zur Ukraine gehört, aber in den 100 Jahren davor auch mal zu Galizien, Österreich, Polen und der Sowjetunion zählte.
Mit sechs Jahren singt das Mädchen im Chor; lernt dann Flöte, Akkordeon, Klavier und Gitarre. Das Kind ist sportlich, schnell und schlau und überspringt eine Schulklasse. „Nach dem Abitur erwarteten alle, dass ich jetzt ganz schnell meinen Doktor mache und danach den Rest des Lebens als Oberstudienrätin verbringe“, sagt Mona Mur. Dann senkt sie dramatisch die Stimme, bis nur noch ein raues Flüstern zu hören ist: „Aber da hätte ich mich lieber aufgehängt!“ Also bricht sie 1980 ihr Sportstudium ab, zieht von zu Hause aus und hinein in die Nachtlebenwelt zwischen „Salambo“, „Goldenem Handschuh“ und „Ritze“: Eine WG am Rande der Hamburger Reeperbahn, in der auch die legendäre Christiane F. wohnt, ist fortan ihr Lebensmittelpunkt. Alle hier machen irgendwas mit Kunst. Sind Musiker, betreiben Labels oder drehen Filme. „Aber es gab auch den Kapitän Harms, das war ein echter Seemann.“
1982 erscheint die Debüt-EP Jeszcze Polska. Mit FM Einheit, Alexander Hacke und Mark Chung besteht Monas Band überwiegend aus Mitgliedern der Einstürzenden Neubauten. Entsprechend brachial klingt die dennoch melodische Musik. Im Titelsong intoniert die damals 22-jährige Sängerin zu martialischen Trommelwirbeln und Weltuntergangsgitarren die ersten Zeilen der polnischen Nationalhymne. „Eine harte, aber differenzierte Brutal-Pop-Platte“, diagnostizierte Diedrich Diederichsen im Musikmagazin Sounds, der britische New Musical Express kürte das Werk sogar zur „Single of the Week“, zur Platte der Woche. „General Jaruzelski hatte gerade in Polen das Kriegsrecht ausgerufen und wir waren uns fast sicher, dass bald Atomraketen bei uns einschlagen“, sagt Mona Mur. Für Konkret und Stern arbeitet sie damals auch als Journalistin, meist im Team mit der Fotografin Ilse Ruppert: „Ich habe das als Geldquelle betrachtet und bewunderten Kollegen etwas Öffentlichkeit verschafft“, sagt sie. „Aber ich war eher ein Wesen, das durch den Tag tanzte, sich verlor und manchmal tagelang nicht nach Hause kam.“
Mitte der 80er kommt Dieter Meier ins Spiel. Der Erz-Dandy, Sänger des Schweizer Avantgarde-Duos Yello, Kunst-Schlawiner und vielfacher Millionär, wird Monas Produzent. Er schlägt ihr Dinge vor wie: „Ich sehe dich auf einer großen Bühne, zusammen mit 15 Männern im Tuxedo.“ Ein Horror, findet die Sängerin, aber Meier lässt nicht locker und bringt sie mit J.J. Burnell und Daved Greenfield von der Band The Stranglers zusammen, mit denen Mona drei eher verträumte Pop-Songs aufnimmt. Die Plattenfirma RCA ist davon so begeistert, dass sie einen sechsstelligen Vorschuss für zwei Alben lockermacht. „Das Geld kam, meine Band verschwand. Da stand ich plötzlich alleine da, als Solosängerin mit dem Künstlervertrag eines Majorlabels.“
Doch das Debütalbum Mona Mur floppt – weil alles Wilde und Unberechenbare wegproduziert wurde, wie die Künstlerin selbst sagt. Ein Fan, den sie damals auf der Straße trifft, sagt ihr, er habe jahrelang auf ihr Debütalbum gewartet, doch nun sei er maßlos enttäuscht! Diese Begegnung geht Mona noch heute nahe. „Maßlos enttäuscht“, wiederholt sie und fährt sich durch die Haare. „Die Leute sehen eben nicht die persönliche Entwicklung, das Leben, das man führt. Alles, was zählt, ist: ,Was hast du rausgebracht, was ist konserviert?̒“
Süchtig nach Taekwondo
Ende 1989 kommt Dieter Meier mit dem Vorschlag, nach Polen zu gehen, um dort zusammen mit Grzegorz Ciechowski ein weiteres Album zu produzieren. Ciechowski war bis zu seinem Tod 2001 ein musikalischer und literarischer Popstar, ein polnischer Jim Morrison. Er bringt Mona mit dem Warschauer Philharmonieorchester zusammen, inszeniert sie mit großem Aufwand als dunkel-romantische Diseuse. Doch die Plattenfirma senkt den Daumen – passt nicht zu der aufkommenden Techno-Ära. So wurde das Album Warsaw erst einmal nicht veröffentlicht.
Mona Murs Karriere als Sängerin scheint damit am Ende zu sein. „Auch mein Privatleben war zerstört, ich habe getrunken wie ein Fuhrkutscher und war überhaupt ein bisschen todesfickig unterwegs.“ Die Rettung ist Taekwondo, das sie nun wie besessen trainiert. „Ich habe zwei Jahre in der deutschen Nationalmannschaft gekämpft, in der Disziplin Technik, das ist ein Kampf gegen mehrere imaginäre Gegner. Dabei gibt es keinen Vollkontakt, es ist heute nicht mehr mein Ding, mir die Fresse polieren zu lassen.“ Das regelmäßige Training sorgt für Struktur. Noch heute übt sie dreimal die Woche Taekwondo – „ich bin zum Junkie geworden“.
Doch die Niederlage als Sängerin macht ihr trotzdem zu schaffen: „Ich war beleidigt und hatte die Nase voll. Dazu kam noch ein weiterer Aspekt: Wenn man als Frau sagt, ich mache Musik, heißt es immer gleich: Singst du?“ Genau deshalb beschäftigt sich Mona ab diesem Punkt vor allem mit der Produktion von elektronischer Musik – „ein emanzipatorischer Akt“. Sie fängt an mit Atari und Vierspurgeräten, besorgt sich weitere Klangmodule, Synthesizer und Software. Heute füllt das Tonstudio einen kompletten Raum ihrer Wohnung. „Ich wollte mich von allen Abhängigkeiten befreien. Selbst für die Programmierung kleiner Sequenzen musste ich früher Leute anheuern, weil ich dachte, ich könnte das nicht. Ich konnte es aber sehr wohl!“ Zunächst produziert sie unheimliche, schwer zu kategorisierende Soundscapes, die in der Game-Branche für Begeisterung sorgen. Fatih Akin verwendet in seinem Film Gegen die Wand, der schließlich mit dem Goldenen Berlinale-Bären ausgezeichnet wird, gleich drei ihrer Songs und besetzt die Sängerin sogar in einer kleinen Nebenrolle.
„Es war, als würden ein paar Blutstropfen auf einen Haufen Asche fallen und der Vampir steht wieder auf“, sagt Mona grinsend über den seither wachsenden Erfolg. Ihr wichtigstes aktuelles Projekt ist die Zusammenarbeit mit dem ehemaligen KMFDM-Musiker Klaus Schandelmaier, der sich En Esch nennt. Zwei Alben haben die beiden seit 2009 aufgenommen, harter Industrial-Rock, gepaart mit Anklängen an Kurt Weill, den Mona verehrt. Im Zürcher Theater der Künste beherrschte das Duo in bizarren Kostümen zuletzt auch die Bühne von Artaud_into the explosion, einer höchst surrealen Inszenierung von FM Einheit und Lukas Stucki. Und sogar das Warsaw-Album wurde Anfang 2016 endlich veröffentlicht – bisher nur in Polen, aber Mona Mur und ihr Fan und Unterstützer Dieter Meier sind optimistisch. „Ich möchte auf keinen Fall altersmilde werden“, sagt die Sängerin. „sonst kann ich’s auch lassen.“
In der Welt des superbraven deutschen Pop ist es sicher nicht leicht eine Mona Mur zu sein. Immer voll da, immer große Pose, immer unterwegs mit Verve, Drama und überwältigender Stimme. Lohnt sich das überhaupt? „Na ja, ich lebe, ich habe ein Studio und ich arbeite noch. Und ich bin auch ohne Geld um die halbe Welt gekommen“, sagt die Sängerin. „Sie glaubt an Worte, die keiner versteht“ heißt es in Mona Mur, einem ihrer schönsten Songs. Und darum ging es ja eigentlich auch mal im Pop. Um Geheimsprachen, Idiosynkrasien und lustvolles Außenseitertum. Mona Mur will davon nicht lassen, zum Glück.
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