Drauf gepfiffen!

Pop Wer spitzt heute noch die Lippen? Selbst die Bauarbeiter haben es aufgegeben. Molly Lewis hingegen macht aus dem Pfeifen wieder eine echte Kunst
Ausgabe 26/2021

Die Idee, mit dem Mund Pfeiftöne zu erzeugen, ist so alt wie die Menschheit. Schon die Neandertaler schätzten einen spitzen Triller als Warnung vor hungrigen Bären oder heranstürmenden Mammuts. Zur Zeit der Renaissance, als die meisten Musikinstrumente noch fehleranfällige Beta-Versionen waren, unterhielten Kunstpfeifer das Publikum mit gedrechselten Melodien. Ein paar Jahrhunderte später fragten die Comedian Harmonists neckisch Kannst du pfeifen, Johanna? – und zwitscherten dazu wie ein Nest beschwipster Amseln. Die Schauspielerin Ilse Werner baute auf ihrem pfiffigen Talent sogar eine lebenslange Karriere auf. Und dann kam die Wende: „Mit meinem sich immer wiederholenden Pfeifen habe ich damals meine Nachbarn genervt“, erinnert sich Sänger Klaus Meine an die Entstehung des Skorpions-Hits Wind of Change.

Heute pfeift kaum noch jemand. Weder im Walde noch in der Popmusik. Sogar die Bauarbeiter haben es aufgegeben. Die kecke kleine Schwester des Vor-sich-hin-Singens hat sich in einen Dornröschenschlaf begeben. Umrankt von einer Dornenhecke aus Bluetooth-Boxen, Earpods und der ständigen Verfügbarkeit von Spotify. Bis man auf Youtube das Video zu Oceanic Feeling entdeckt. Da tänzelt die junge Australierin Molly Lewis als Prinzessin verkleidet durch einen Märchenwald aus Plastikblumen und wallendem Kunstnebel. Doch das Wichtigste: Sie singt keinen Ton, sondern pfeift das komplette Stück. Ein betörender Kitsch-Traum, der sich noch steigert, als der Schauspieler John C. Reilly (Guardians of the Galaxy, The Lobster) als Saxophon spielender König auftritt.

Doch Molly Lewis meint es ernst. Die Tochter einer Musikerin und eines Dokumentarfilmers entdeckte ihre Leidenschaft für das Pfeifen durch Pucker Up, eine Doku über die „International Whistling Competition“ in Louisburg. Einmal im Jahr treffen sich dort die besten Pfeifer:innen der Welt, viele davon aus Japan. 2012 reiste auch Molly mit ihrem Vater nach North Carolina, um an dem Wettbewerb teilzunehmen. Die Australierin schaffte es bis ins Finale und erhielt den Preis für „die Teilnehmerin mit der weitesten Anreise“. Eine Art Trostpreis, klar, aber auch eine Bestätigung.

Hawaii-Urlaub zum Hören

Lewis’ Debüt-EP The Forgotten Edge nun ist eine musikalische Parallelwelt, voller Reminiszenzen an die Exotica von Martin Denny und Les Baxter. In den späten 1950ern waren Instrumental-Alben wie Forbidden Island oder Quiet Village eine Art Hawaii-Urlaub zum Hören: exotisch verträumter Soft-Jazz, der mit Marimbas und Strandläufer-Melodien versuchte, Vorstadtwohnzimmer in Tiki-Bars zu verwandeln. Molly Lewis addiert noch eine gute Portion Hollywood Noir, pfeift auf dem Boulevard der Dämmerung, bis sie einen Balcony for Two gefunden hat. Der makellose Retro-Sound der EP ist das Verdienst von Thomas Brenneck. Der Produzent und Multiinstrumentalist aus New York hat für Amy Winehouse Gitarre gespielt und war Gründer der Menahan Streetband. Seit 2017 arbeitet Brenneck in Los Angeles – wo Molly Lewis nach einem Studium der Filmwissenschaft inzwischen das Leben eines It-Girls führt. Sie saß sogar am Totenbett des Schauspielers Harry Dean Stanton und pfiff für ihn das tieftraurige Danny Boy.

In ihrem unregelmäßig stattfindenden Club „Café Molly“, führt Lewis im eleganten weißen Hosenanzug durch ein eklektizistisches Programm und feiert auch hier den nostalgischen Glamour. Die Band spielt im Sitzen und mit Stehbass, vor der Bühne funkelt ein Meer aus Kerzen. Auf molly-lewis.com gibt es ein hübsches Video, in dem John C. Reilly – ebenfalls im weißen Anzug und mit riesigem Cowboyhut – Slim Whitmans Cowboyballade Twilla Lee intoniert, unterstützt von einem wehmütig klagenden Waldhorn und dem ätherischen Pfeifen der Gastgeberin. Höhepunkt solcher Abende ist oft ein Song von Alessandro Alessandroni – dem legendären Pfeifer der Spaghetti-Western-Soundtracks von Ennio Morricone. In Filmen wie Spiel mir das Lied vom Tod ist das Pfeifen eindeutig Männersache. Stoppelbärtige Killer spitzen zuerst die Lippen – und drücken dann erbarmungslos ab. Ein altes deutsches Sprichwort wiederum besagt: „Mädchen, die pfeifen, und Hühnern, die krähen, soll man beizeiten die Hälse umdrehen“. Eine Drohung an alle Frauen und der Grund, warum Pfeifen in der Geschichte des Feminismus lange als Symbol für das Aufbegehren gegen männliche Dominanz galt.

Wenn im Pop gepfiffen wird, muss niemand etwas befürchten – obwohl auch hier meist Männer den Ton angeben. Viele Sänger versuchen dadurch authentisch und verletzlich zu klingen – und landen oft im Selbstmitleid. So wie Bryan Ferry mit seiner (trotzdem tollen) Version des John-Lennon-Klassikers Jealous Guy. Deutlich munterer und vitaler ist da Wishing Girl vom israelischen Duo Lola Marsh.

Das Pfeifen von Molly Lewis ist anders – künstlicher und virtuoser. Doch auch sie wird diese verlorene Kunstform vermutlich nicht mehr in den Alltag zurückbringen. Das selbstvergessene Pfeifen ist ein Luxus, der in der heutigen Zeit keinen Platz mehr hat. Die Songs von Forgotten Edge zeigen, was dabei verloren geht.

Info

The Forgotten Edge Molly Lewis Jagjaguwar / Cargo 2021

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