Grime – für Kenner*innen lautmalerisch GRM – ist eine britische Hip-Hop-Variante, die die Schrecken der Zukunft nicht fürchtet, sondern vorwegnimmt. Motto: Wer nicht viel erwartet, wird auch nicht enttäuscht. Wie Hartgummigeschosse knallen die Beats dieser Musik seit Anfang des Millenniums durch vorstädtische Fußgängerzonen, wo sich die jüngste Generation der Aussortierten trifft. Als Rapper*innen dürfen sie sich lauthals beschweren, verbal kraftmeiern, sogar mit der Apokalypse drohen. Schnell, hart und treffsicher. Tiefergelegte Bässe flattern dazu wie ein Elektrizitätswerk kurz vor dem Kollaps. Und ab und zu geschieht auch mal ein Wunder, und einer aus der Szene wird zum Popstar, so wie Stormzy.
Alles ist bedingungslos
Für Sibylle Berg ist Grime die „größte musikalische Revolution seit dem Punk“. In ihrer 2019 erschienenen Dystopie GRM Brainfuck nutzt die Autorin Stimmung und Haltung des Genres, um nicht nur die Geschichte einer Gruppe von Jugendlichen zu erzählen, sondern auch um möglichst alles aufzulisten, was seit Jahrzehnten schiefläuft in der Welt: Überwachung durch soziale Medien, postfaktische Gesellschaft, Ökonomisierung aller Lebensbereiche, Rassismus, Ungleichheit und die hemmungslose Ausbeutung des Planeten. Eine brillante Suada der Empörung, ein Remix aller Schrecken des kapitalistischen Anthropozäns, hart und auf den Punkt, wie die Texte von Skepta, Flowdan und Wiley.
Doch lässt sich eine so ausufernde Dystopie auf die Länge eines „sogenannten Musicals“ herunterbrechen und im Hamburger Thalia Theater einem Publikum servieren, dessen Weltbild überwiegend durch die Lektüre von Zeit und Hamburger Abendblatt geprägt ist? Immerhin: Sibylle Berg verantwortet selbst die Theaterfassung und Regisseur Sebastian Nübling hat vergangenes Jahr im Gorki Theater Kevin Rittbergers Antifa-Stück Schwarzer Block konsequent radikal auf die Bühne gebracht. Chancen, dass Nerds heute Abend vielleicht nicht die Welt retten, aber zumindest ein besseres Bewusstsein schaffen, sind also durchaus vorhanden.
Im Mittelpunkt der Thalia-Bühne dreht sich in vier Meter Höhe ein bunt flimmerndes Werbedisplay. Darunter ein paar durchgesessene Couchen – und sehr viel schwarze Leere. „You’re In“ leuchtet es vom Mega-Screen, vor einem Hintergrund aus zartrosa Kirschblüten und strahlend blauem Himmel, und ein komplett virtuell wirkendes Paar (Gabriela Maria Schmeide und Tim Porath) berichtet mit euphorisiertem Dauergrinsen von einer schönen neuen Welt. Von einem bedingungslosen Grundeinkommen ist die Rede, das jeder erhält, der bedingungslos seine Daten preisgibt. Mit Sozialpunkten, die es für Wohlverhalten und Denunziation gibt, lässt sich zusätzlich Geld machen. Von hoch oben herab schwärmen die beiden Lachleute von einer Zukunft, deren eisige Schatten auch bei uns längst angekommen sind.
Im Zwielicht unter dem Bildschirm entert nun eine Gruppe Jugendlicher die Bühne. Sie drehen, recken und spreizen sich, sind ganz und gar Körper im Unterschied zum Pixel-Duo über ihnen. Sie sprechen überwiegend mit einer Stimme, als Chor, nur ab und zu fallen sie sich ins Wort oder ergänzen sich, wie Rapper*innen eben. Doch weil den jungen Schauspieler*innen nicht nur individuelle Ecken und Kanten fehlen, sondern auch der nötige Flow, klingt das oft ungelenk. Nur einmal, als sie sich mit ihren mobilen Endgeräten selbst filmen und die Bilder live auf dem großen Screen streamen, werden die Charaktere erkennbar, leuchten geradezu. Schade, dass diese elektrisierende Lebendigkeit der Personen sonst kaum zu spüren ist.
Ausgesprochen doof wird es, wenn die beiden Flitzpiepen vom Schirm plötzlich mit VR-Brillen über die Bühne latschen, weil sie ihre wegrationalisierten Nine-to-five-Jobs noch einmal virtuell erleben möchten. Die Kids stehen übertrieben irritiert, ja regelrecht zitternd um sie herum. Sie sehen in den Überflüssigen die neuen Spießer*innen, deren Identität durch einen Job geprägt wurde, den sie nun nicht mehr brauchen, aber offenbar vermissen. Ein interessanter Aspekt, angesichts von KI et cetera, der so aber verschenkt wird.
„Unvorstellbar, dass es hier so etwas wie einen Aufstand geben könnte“, sagt einer. Immerhin hacken die Kids das Display, das den Bilderstrom der schönen neuen Welt verbreitet. Was leider nichts bringt, doch die Inszenierung setzt ohnehin einen anderen Schwerpunkt: „Wir hatten einander gefunden und damit den Ort, der einer Höhle glich, die transportabel immer bei uns war. Wir hatten einander erkannt. Als Außenseiter, als Randgruppenerscheinung.“ Damit reiht sich GRM Brainfuck ein in den Kanon der Außenseiter-Balladen, die die Möglichkeiten einer Insel ausloten oder auf romantische Erlösung hoffen, notfalls im Kugelhagel der Cops. 100 Minuten lang lassen Berg und Nübling ihre Helden zusammen zappeln, tanzen, deklamieren – ohne dass sich etwas bewegt. Es sind einfach zu viele Themen, die hier angetippt werden. Eine Flut von Missvergnügen, die über die Zuschauer hereinbricht.
Am besten funktioniert die Musik der Ruff Sqwad Arts Foundation. Dahinter verbirgt sich eine Selbsthilfeorganisation zur Förderung junger Talente, 2017 initiiert von den Crime-Rappern Prince Owusu-Agyekum (alias Rapid) und Ebenezer Ayerh (alias Slix). Gesegnet mit der Weisheit authentischer Straßen drehen und winden sich diese Stücke in vollem Selbstbewusstsein, zeigen eine Körperlichkeit, die der Inszenierung über weite Strecken fehlt – bei allem tänzerischen Einsatz der Schauspieler*innen, von denen einige durchaus beeindrucken. Die Inszenierung von GRM Brainfuck bleibt so leider weit hinter dem Buch zurück. Und am Ende kommen Schulklassen.
Info
GRM Brainfuck. Das sogenannte Musical von Sibylle Berg Sebastian Nübling (Regie), Thalia Theater, Hamburg
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