Hausmeister des Hirns

Musik James Leyland Kirby packt das Thema Demenz mit einer Reihe von Alben an und ergründet unser aller Unfähigkeit, uns zu erinnern
Ausgabe 16/2019

Kaum ist man wieder ein paar Jahre älter, hat man das Gefühl, alles um einen herum löst sich auf. Musik wird zum Stream, Daten landen in der Cloud und wer in einer Großstadt von A nach B möchte setzt heute auf Carsharing und nicht mehr auf den eigenen Pkw. Was bleibt, sind Erinnerungen. Die Lufthansa bewirbt in ihrer aktuellen Kampagne weniger die bekannten Traumziele als vielmehr die Erinnerung, dass man einmal dort war: „Nobody regrets making memorys.“ Erinnerungen sind der Kern unseres Seins. Alles spezifisch Menschliche ist darin involviert und aneinandergekoppelt: Bewusstsein, Geist, Emotion, Verstand und Poesie. Erinnerung ist mehr als nur Gedächtnis – sie ist identitätsstiftend. Selbst in der Popkultur, wo noch vor 20 Jahren die Parole galt: „Forward ever, backward never“.

„Das große Problem der Gegenwart ist das Gewicht der Vergangenheit“, sagt der britische Musiker James Leyland Kirby, der sich unter dem Namen The Caretaker seit 20 Jahren mit Erinnerung und Verlust beschäftigt. Seine Drone- und Ambient-Stücke sind komplexe musikalische Studien des Zerfalls, die gerne mal mit einem altmodischen Schallplattenknistern unterlegt werden, auch wenn hier alles digital zugeht. Auf einem Album wie Theoretically Pure Anterograde Amnesia – der Titel bezieht sich auf eine Krankheit, die die Merkfähigkeit für neue Bewusstseinsinhalte reduziert – gibt es keine Lieblingslieder, „es ist wie der Versuch, sich an einen Traum zu erinnern. Manche Dinge sind klar, doch die Details bleiben immer noch unerreichbar im Dunkeln“, sagt Kirby. Sehr viel Wehmut und ein Gefühl von Vergeblichkeit ziehen durch die oft überraschend angenehm zu hörenden Stücke, die man trotzdem nur sehr bedingt als Pop bezeichnen kann.

In den späten 90ern und frühen nuller Jahren schlachtete Kirby unter dem Projektnamen V/Vm überwiegend die Musik von Popstars wie Wham, Alphaville oder Gary Glitter. Der Guardian bezeichnete ihn 2009 als „leidenschaftlichen Unruhestifter“, mit dem Bedürfnis, andere Leute anzupissen. Doch auch in Kirbys albtraumhafter – blutroter – Zeitlupen-Version von Chris De Burghs Lady In Red geht es letztlich um Erinnerung: „Wenn man meine Fassung des Songs kennt, überlagert sie das Original mit der verzerrten Erinnerung daran, wie es anders sein könnte“, schreibt der 1974 in Stockport bei Manchester geborene Musiker in einer Mail. Ein Phänomen, nennen wir es korrumpierte Erinnerungen, das sich unter anderen Vorzeichen gerade bei der Wahrnehmung der Musik von Michael Jackson zeigt.

Jetzt hat Kirby seine bisher aufwendigste Arbeit fertiggestellt: Everywhere At The End of Time beschreibt über sechs Alben, veröffentlicht zwischen 2016 und 2019 im Abstand von je exakt sechs Monaten, die fortschreitenden Stadien von Alzheimer und Demenz. Jedes einzelne dieser Alben ist eine künstlerische Reflexion über spezifische Symptome: von der langsamen Erkenntnis des Patienten, dass etwas nicht stimmt, bis zur kompletten Auflösung des Bewusstseins. Wie bereits auf An Empty Bliss Beyond This World, dem mit zwei Millionen Youtube-Klicks überraschend erfolgreichen Vorgänger, bilden auch diesmal wieder alte Jazzaufnahmen aus den 30er und 40er Jahren ein Fundament, das durch Hall, Verlangsamung und Klang-Modulationen ins Abstrakte überführt wird. „Das Besondere an dieser Musik ist ihr Gespür für Verlust, in den Texten geht es oft um Geister und Spuk“, sagt Kirby.

Stage 1 klingt nach einem menschenleeren Ballhaus, in dem gelegentlich der Wind die Vorhänge bläht. Unwirkliche Melodien wehen durch den Raum, mal spielt ein geisterhaftes Piano, mal eine komplette Band. Alles Samples und Loops aus Platten von Jazz-Age-Künstlern wie Al Bowlly oder Russ Morgan, die Kirby für kleines Geld in längst nicht mehr existierenden Plattenläden erworben hat. „Demenz ist ein ernsthaftes Thema, auch in meiner Familie gab es Fälle, erst letztes Jahr habe ich einen Onkel verloren. Was die ,Everywhere At The End Of Time‘-Serie angeht, habe ich zuerst verschiedene Fallbeispiele studiert, um daraus ein Bild zu formen, in dem man die häufigsten Symptome erkennt. Aber natürlich variiert das alles sehr.“

Das Letzte, was bleibt

Von Album zu Album verblassen die Jazzmelodien mehr und mehr, nur ein paar Fetzen, einzelne nachhallende Töne bleiben länger erkennbar. „Wissenschaftler behaupten, das Letzte, was im Gehirn verbleibt, sind musikalische Erinnerungen“, sagt Kirby. Eine Suche nach der verlorenen Zeit, die ab Teil vier von Everywhere At The End Of Time ins Unterbewusste abgleitet. Das sonnige, Jazz-durchwehte Kaffeehaus hat sich in einen endzeitlichen Ort am Rande eines dunklen Ozeans verwandelt.

Als Kirby 1999 sein erstes Caretaker-Album Selected Memories From The Haunted Ballroom veröffentlichte, ging es ihm noch darum, eine nostalgische Klangwelt zu erschaffen. Eine musikalische Erweiterung der gruseligen Ballsaal-Szenen aus dem Film The Shining. Der Projektname The Caretaker bezieht sich auf Jack Nicholsons Rolle des Hausmeisters in Stanley Kubricks Horrorklassiker. „Es geht um ein bestimmtes Gefühl“, sagt der Musiker, „später spielten auch Filme wie Carnival Of Souls und Dennis Potters Pennies From Heaven eine Rolle. Dabei existierte das Projekt lange in einer Schattenwelt und hat sich erst im Lauf der Jahre ohne jede Promotion, ausschließlich durch Mundpropaganda verbreitet“. Die Alben erscheinen auf Kirbys Label History Allways Favours The Winners und sind überwiegend nur digital erhältlich, als Download bei Bandcamp, als Stream bei Youtube. Kleine Vinyl-Auflagen sind meist binnen Tagen vergriffen.

Der britische Autor Mark Fisher hat The Caretaker zu einem der Kronzeugen seiner Hauntology-Theorie gemacht. Basierend auf Marx’ Gespenster, einem Buch von Jacques Derrida, der sich darin angesichts des Triumphs der neuen Weltordnung nach 1989 zum Fürsprecher des Untoten machte, geht es um die Geister der Vergangenheit, die in Form von Erinnerungen noch immer durch die Gegenwart spuken. In Gespenster meines Lebens schreibt Fisher: „Es ist der feuchte, schimmelige Geruch der Gruft, von Parfum und Schminke niemals ganz überdeckt, der bei der Musik von Caretaker das Easy Listening stört und dafür sorgt, dass ein Unbehagen, ein mulmiges Gefühl bleibt. Auf Dauer lassen sich die am äußersten Rand unserer audiovisuellen Wahrnehmung lauernden Schatten nicht ignorieren: Die Reise auf den Spuren der Erinnerung ist wundervoll berauschend, doch bleibt der bittere Beigeschmack.“

Onkel Keith’s Ford Capri

Der marxistische Theoretiker Frederic Jameson erkennt eine der Blockaden postmoderner Kultur darin, dass wir nicht in der Lage sind, uns auf unsere eigene Gegenwart zu konzentrieren, als wäre uns die Fähigkeit abhandengekommen, sie ästhetisch darzustellen. Die Angst vor einer als dystopisch empfundenen Zukunft führt zu einer Sehnsucht nach der gefühlt heimeligen Vergangenheit. Ökonomisierung, vermeintlich alternativlose Politik und eine grundsätzliche Haltung des „Weiter-so“ und „Muss-ja“ prägen den Alltag. „Noch in den 90ern dachten wir alle, 2000 und was folgt, sei tatsächlich der futuristische Ort, als der die Zukunft verkauft wurde. Doch stattdessen war es ein kollektiver Moment der Enttäuschung. Von der derzeitigen politischen und ökologischen Situation mal ganz abgesehen.“ Auch von Rave und Techno ist der einstige Enthusiast enttäuscht. Für The Death Of Rave sampelte Kirby Hunderte von einschlägigen Tracks aus den Jahren 1988 bis 1996 und bearbeitete sie so lange, bis daraus ein wehmütiges Requiem wurde. „Das Album entstand 2006 nach einem Besuch im Berghain, als der Club noch Underground war – wenn es diesen Begriff heute überhaupt noch gibt“, sagt Kirby, der nach einigen Jahren in Berlin inzwischen in einem Dorf in der Nähe von Krakau lebt.

Was auffällt, wenn man die Veröffentlichungen von Kirby durchgeht, sind die sprechenden, manchmal regelrecht poetischen Titel: We, So Tired Of All The Darkness In Our Lives, Sadly The Future Is No Longer What It Was oder We Drink To Forget The Coming Storm: „Es ist ein Framing meiner Arbeiten. Zwei der oben genannten Titel stammen aus Popsongs der 80er Jahre, doch wenn man die Zeilen aus ihrem Zusammenhang nimmt, stehen sie für sich selbst und geben den Klängen einen Rahmen.“ Ähnlich verhält es sich mit den Covern der Caretaker-Alben, die überwiegend von dem Maler Ivan Seal gestaltet werden, einem alten Freund aus Manchester. „Ich gebe ihm beim Artwork Carte blanche, deshalb ist es seine reine Reaktion auf den Sound und das Konzept der jeweiligen Veröffentlichung“, sagt Kirby. „Einige seiner verdrehten Gemälde sind deshalb so schön, weil er windschiefe Kindheitserinnerungen einfängt. In einigen neueren Bildern verwendet er ein spezielles Gelb, in dem in den 80ern viele englische Autos lackiert waren. Mein Onkel Keith hatte einen Ford Capri in genau der Farbe, mit einer Tür, die jedes Mal fast abfiel, wenn man um eine Ecke fuhr. Ich hatte das alles komplett vergessen, aber die Erinnerung kam zurück durch diesen ganz speziellen Gelbton.“

Noch bis zum 16. Juni ist im FRAC Auvergne, im französischen Clermont-Ferrand, die gemeinsame Ausstellung Everywhere, An Empty Bliss zu sehen. Es ist das letzte Gastspiel des Caretakers, der in einem Abschieds-Statement schreibt: „May the ballroom remain eternal. C‘est fini.“ Wir werden uns gerne an ihn erinnern.

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