Rammstein-Zirkus ging viel zu lange als großer böser Spaß durch

Meinung Es ist erstaunlich, wie viel Liebe und Bewunderung dem selbsterschaffenen Unhold Till Lindemann über die Jahre auch aus dem Feuilleton entgegenschlug. Aber das lyrische Ich und die reale Person sind sich mitunter näher als manchem lieb ist
Till Lindemann, bye, bye
Till Lindemann, bye, bye

Foto: Nikolaj Bransholm/Gonzales Photo/picture alliance

Showtime! Ab Mittwoch stehen Rammstein im Münchner Olympiastadion für vier Konzerte auf der Bühne und die Verantwortlichen bemühen sich, nun alles richtig zu machen. Keine „Row Zero“, mit vorab gecasteten jungen Frauen, auch Backstage-Partys soll es diesmal nicht geben. Die Anschuldigungen der 24-jährigen Irin Shelby Lynn und anderer junger Frauen, man habe sie nur deshalb zum Konzert eingeladen, damit Till Lindemann Sex mit ihnen haben kann, werden scheinbar ernst genommen.

Aber ist es nicht erstaunlich, wie viel Liebe und Bewunderung dem selbsterschaffenen Unhold Till Lindemann über all die Jahre entgegenschlug? Da konnte er noch so vielen Puppen den Kopf abreißen, Körperflüssigkeiten verspritzen oder finster raunen „Manche führen, manche folgen“ – im Feuilleton wurde schmunzelnd abgewunken: Der macht doch nur Spaß, der will doch nur Spielen …! So ähnlich war es ja auch schon beim „Schock-Rocker“ Marilyn Manson – bevor mehrere Frauen ihm Missbrauch vorwarfen. Sexismus und Gewalt gelten in Pop, Rock und Rap trotz #MeToo noch immer als spicy Aromen und Geschmacksverstärker. Sex and Drugs and Rock’n’Roll! Eine Folklore, die sich immer noch an der Freizügigkeit der 60er und 70er orientiert, die aber schon damals weitgehend für Männer reserviert war.

Als Till Lindemann 2020 in dem Gedicht „Wenn du schläfst“ genießerisch die Vergewaltigung einer mit Rohypnol im Wein betäubten Frau beschreibt, geht das für einige Kritiker*innen eindeutig zu weit. Helge Malchow, Editor-at-large bei Kiepenheuer & Witsch, wiegelte ab und erinnerte routiniert an die Differenz zwischen dem lyrischen Ich und der Person des Autors. Die beiden Gedichtbände des Rammstein-Sängers verkaufen sich für Lyrik-Verhältnisse ja auch erstaunlich gut. Der wilde Sohn des Kinderbuchautors Werner Lindemann gilt schon lange als Talent: „Rammstein ist das Hochamt für die deutsche Sprache“ konstatierte Die Welt bereits 2010. Wirklich? „Eine Faust in meinem Bauch / Komm her, du willst doch auch“, singt Lindemann in „Sex“, vom vorletzten Album. Und in „Dicke Titten“ grölt das lyrische Ich des Sängers: „Doch um eines möcht’ ich bitten: dicke Titten!“

Till Lindemann Darsteller in Hardcore-Porno

In den Feuilletons warnt man derweil vor Vorverurteilungen. Oder erzählt Geschichten von legendären Groupies, wie Uschi Obermaier oder Pamela Des Barres. Starke Frauen, aus einer anderen Zeit, die in der Regel wussten, was sie taten. Die jungen Mädchen, die von Alena Makeeva – offizieller Titel „Casting Director on Tour with Till Lindemann“ – vorab gecheckt und bis ins Detail gebrieft wurden, ließen sich bereitwillig casten, weil sie als Fans ihre große Chance sahen, einem Rockgott so nahe wie möglich zu kommen. Sind sie deshalb selber schuld, wie auch weibliche Fans in den sozialen Netzwerken behaupten? Natürlich nicht!

Man wundert sich eher, warum der Rammstein-Zirkus so lange als großer böser Spaß durchging. Herausgeber der beiden bei KiWi erschienenen Lyrikbändchen ist Alexander Gorkow, einer der beiden Feuilleton-Chefs der Süddeutschen Zeitung, die die Vorwürfe gegen Lindemann zusammen mit dem NDR publik gemacht hat. Doch der Lindemann, den Gorkow 2012 in einer epischen Reportage über die US-Tour von Rammstein im SZ-Magazin beschreibt, ist „hinter Masken und Wunden ein leise sprechender Mann und brillanter Erzähler, der vor Fans nahezu panisch Reißaus nimmt – und in Ruhe an Gedichten und Liedtexten feilt“. Echt jetzt? „Du blutest für mein Seelenheil / Ein kleiner Schnitt und du wirst geil“, fabuliert der „erstaunlich leise“ Lyriker in „Ich tu dir weh“.

Und wer immer noch nicht genug hat, kann nach „Till The End“ googeln. Das ist keins der üblichen breit grinsenden Musikvideos für die Rammstein bekannt sind, sondern ein Hardcore-Porno (Regie: Zoran Bihac) mit dem Sänger als Hauptdarsteller. Mit stoischem Gesichtsausdruck rammelt, würgt und schlägt Lindemann hier Frauen, die auf Knien devot zu ihm gekrochen kommen. Der Lyrikband „In stillen Nächten“ spielt auch eine Rolle, als eine Art Sex-Toy. Kiepenheuer & Witsch hat deshalb die Zusammenarbeit mit Lindemann mit sofortiger Wirkung beendet. Das lyrische Ich und die reale Person des Autors sind sich mitunter näher als manchem lieb ist. „Irony is over, bye, bye“, wie der Pulp-Sänger Jarvis Cocker schon vor 25 Jahren feststellte. Manchmal muss man nur zuhören und hinschauen.

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