Heute klingt das Wort so zeitgemäß wie Berufsrevolutionär oder Klassenfeind: Agitprop. Rote Fahnen über zornig geballten Arbeiterfäusten, steife Zylinder auf den Häuptern monokeltragender Kapitalisten. Das Hamburger Schwabinggrad Ballett lässt sich davon nicht abschrecken und benutzt den Begriff trotzdem zur Selbstbeschreibung. Eine gute Portion Ironie mag dabei schon mitschwingen. Denn die Mitglieder des „Polit- und Performance-Kollektivs“ haben sich größtenteils im Buttclub kennengelernt, einem Treff von Künstlern, Musikern und linken Aktivisten im Umfeld der Hafenstraße. Der etwas kauzige Name verbindet Schwabing, das Münchner Bohemeviertel der 60er, mit Stalingrad, der größten Niederlage der Deutschen. Das Ballett wiederum erklärt sich bei Auftritten der Gruppe von selbst.
Mit Beyond Welcome! ist nun das zweite Album der Gruppe erschienen, die sich nicht als Popband versteht. Das Schwabinggrad Ballett führt mit Initiativen wie „Recht auf Stadt“ und „Refugees Welcome“ Interventionen im öffentlichen Raum durch, es spielt bevorzugt bei Demonstrationen und Kundgebungen oder in Auffanglagern für Geflüchtete. Auf improvisierten Bühnen und mit einem Instrumentarium, das man selbst tragen und zur Not auch schnell in Sicherheit bringen kann. Der einzige Profimusiker der Truppe ist Ted Gaier, Gitarrist und zweite Stimme der Goldenen Zitronen; auch der Journalist Christoph Twickel verfügt über musikalische Erfahrung. Es geht hier nicht darum, sich breitbeinig auf die Bühne zu stellen, um Pop und Protest zu einem konsumierbaren Markenartikel zu verbinden.
Was das Schwabinggrad Ballett ausmacht, zeigt die gut zweijährige Zusammenarbeit mit den afrikanischen Aktivisten von Arrivati. Menschen, die vor dem Krieg in Libyen nach Deutschland flohen, wo sie in der Gruppe Lampedusa in Hamburg bis heute für ihr Bleiberecht kämpfen. In einer ausgebauten Scheune in Brandenburg haben Arrivati und Schwabinggrad Ballett vergangenen Winter die Musik für das Album Beyond Welcome! aufgenommen, im Garten des Berliner Clubs ://about blank wurde es nun vorgestellt.
Disco, Mall, Festung Europa
Der Abend beginnt mit einem jener Tänze, denen das Schwabinggrad Ballett seinen Namen verdankt: Ein Dutzend Männer und Frauen, in roten Hemden und schwarzen Hosen, führt eine eckig-militärische Choreografie auf. Synchron gehobene Beine, schneidige Drehungen, zum steifen Gruß gewinkelte Arme. Das geht ein paar Minuten so, und auch wenn die Performer ernst und entschlossen blicken, wirkt dieser Tanz ein wenig albern. Vor allem am Schluss, wenn sich jeder in seinem eigenen Spieldosenrhythmus dreht. Der Beifall der nicht sehr zahlreichen Zuschauer fällt dann auch recht zurückhaltend aus. Man ist hier halt in Berlin und nicht in Hamburg, wo die Gruppe längst weltbekannt ist.
Es folgt ein seltsam aus der Zeit gefallenes Konzert. Ein Jam, in dem die Stile verschwimmen und die Frage, ob das jetzt Krautrock, Postrock oder Electro-Dub ist, keine Rolle spielt. Musiker verlassen die Bühne, setzen sich ins Publikum und kommen nach ein paar Nummern wieder zurück. Viele Songs sind in afrikanischer oder französischer Sprache, was das Verständnis der durchweg politischen Texte schwer macht. Wenn in Ôbosso das Wort „Calais“ wie ein Mantra wiederholt wird, untermalt von einem Geflecht sich stetig steigernder Trommeln, entwickeln sich trotzdem schnell Leidenschaft und Empathie. Es sind vor allem die kämpferischen Stücke, wie Réponds! und Bodies Will Be Back, die überzeugen, oder auch Ma place, das in einer ähnlichen Version schon auf dem letzten Album der Goldenen Zitronen zu hören war. Das bedrohlich wummernde Stück handelt vom öffentlichen Raum, den der Einzelne immer seltener ohne Einschränkungen nutzen kann – egal ob es sich um eine Disco, eine Shoppingmall oder die Festung Europa handelt.
Leider entwickeln nur wenige Stücke des Albums eine so unbändige Kraft. Vieles erinnert an den rumpeligen DIY-Geist der frühen 80er. Über die Utopie besteht nur aus einem fast vierminütigen Adorno-Zitat, das mit elektronischen Piepsern und Rülpsern unterlegt ist. Kann man machen, aber wen möchte man damit überzeugen? So erreicht dieser Agitprop nur die üblichen poplinken Bescheidwisser. Wie man es besser machen kann, zeigt unterdessen der türkische Multimediakünstler Halil Altındere mit dem Video Homeland im Rahmen der 9. Berlin Biennale. Der aus Syrien geflohene und nun in Berlin lebende Rapper Mohammed Abu Hajar erzählt darin die Geschichte einer visuell atemberaubend inszenierten Flucht. In nur zehn Minuten wird hier klar, dass diese Flüchtlinge auch ideenreiche, gewitzte Helden sind.
Auch das Schwabinggrad Ballett steht für eine Willkommenskultur, die mehr will als nur Kleiderspenden und menschenwürdige Unterkünfte. Doch es ist die soziale Praxis – die Zusammenarbeit mit Geflüchteten, das politische Engagement –, die sie auszeichnet. Das Album ist allenfalls eine Dokumentation und Zusammenfassung dieser enorm wichtigen Arbeit.
Info
Beyond Welcome! Schwabinggrad Ballett/Arrivati Buback
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