Ende der 90er saß Boris Becker in einem Werbeclip für AOL vor dem Computer und konnte sein Glück kaum fassen: „Ich bin drin!“ Danach wollten sie alle rein in dieses Internet. Nicht unbedingt wegen Becker, sondern weil sie darin zu Recht eine neue Welt vermuteten. Ein Geflecht von Netzwerken und Bildern, Kampfzonen und Verlockungen, in dem wir liken und posten, wünschen und bekennen.
In der Kunst ist das „drin sein“, das Eintauchen in Welten, schon lange ein großes Thema. Hier spricht man inzwischen von Immersion und meint damit nicht bloß Virtual-Reality-Trips mit Oculus-Rift-Brille auf dem Kopf, sondern auch Künste, die Situationen herstellen und eine Reaktion einfordern. Die Berliner Festspiele widmen dem von viel akademischem Wortgeklingel umschwirrten Begriff seit 2016 einen auf drei Jahre angelegten Schwerpunkt. Gerade gestartet ist die Ausstellung Philippe Parreno, an diesem Wochenende eröffnet Welt ohne Außen, deren Co-Kurator der Kunst-Star Tino Sehgal ist. Der 42-Jährige ist bekannt für seine klug konstruierten Situationen – und dafür, dass er von seinen Werken keinerlei Bilder und Aufzeichnungen zulässt.
Ich treffe Sehgal im Lichthof des Gropius Baus am Rande eines dunkel schimmernden Bassins. Der französische Künstler Philippe Parreno lässt dort „Sonic Waterlilies“ erblühen. Angeblich ist es sogar das Gebäude selbst, das mit Hilfe eines Seismografen Schallwellen erzeugt, die sich auf der Wasseroberfläche zu konzentrischen Kreise formieren. „Die Anwesenheit der Abwesenheit“ nennt das Tino Sehgal, der im olivgrünen Windbreaker zu Sneakers und schmal geschnittenen Jeans neben mir durch das Gebäude eilt. In einer Stunde hat er im Haus eine Probe mit den Akteuren seines eigenen Beitrags zu Welt ohne Außen. This Is So Contemporary wurde 2005 auf der Kunstbiennale in Venedig zum ersten Mal gezeigt. Als Museumswächter verkleidete Schauspieler singen aus heiterem Himmel „Oh, this is so contemporary“ und tanzen zwischen den Besuchern umher. Der stille Genießer, der von einer gepolsterten Bank aus das Gemälde vor sich studiert, ist da nicht mehr gefragt.
Lizenz zum Quatschmachen
In Parrenos Ausstellung geht es eher zu wie in einem Geisterhaus. Jalousien heben und senken sich, ein Piano klimpert dissonant vor sich hin (weil es von einem im Nebenraum laufenden Film getriggert wird). Vor den Fenstern installierte Mikrofone übertragen die Außengeräusche nach innen, bis eine Art Musique concrète entsteht. Algorithmen und ein Bioreaktor, der aussieht wie aus einem Chemie-Leistungskurs, haben die Steuerung übernommen, und selbst Sehgal kann nicht genau erklären, wie das alles im Detail funktioniert. Wunderbar verständlich und traumhaft surreal ist dagegen My Room Is Another Fish Bowl: Ein Schwarm großer Fische schwimmt durch einen Saal, sie umgleiten den Besucher oder treiben als Solitäre müde durch den Raum. Natürlich sind die Fische nicht echt, es sind sorgfältig präparierte, mit Helium gefüllte und mit Gewichten austarierte Ballons.
Beeindruckend, wie die vielen Details in Parrenos Kunst ineinandergreifen. Tino Sehgal fällt dazu ein Buch von Graham Harman über den Theoretiker Bruno Latour ein: Prince of Networks. „Bei Latour geht es nicht mehr um die großen Ontologie-Kategorien, wie bei Kant, sondern man hat es vor allem mit Details zu tun. Das liegt aber in der Natur der Sache, wenn man die Welt als interdependentes Ökosystem versteht. Dann ist halt jeder Parameter wichtig, weil sich jeder Parameter auswirkt.“ Allzu einfache Antworten sind eben nicht nur in der Politik, sondern auch in der Kunst unmöglich geworden.
Im ersten Stock des Gropius Baus gehen wir durch die Baustelle, die Welt ohne Außen noch ist. Überall Staub und Bretter, kaum etwas ist fertig. Sehgal weiß trotzdem genau, an welcher Stelle was zu sehen sein wird. Hier eine Lichtwand von Carsten Höller, dort ein „Unendlichkeitsraum“ von Douglas Wheeler, einem Künstler aus dem Light-and-Space-Movement, der gerade wiederentdeckt wird. Sehgal zitiert den Kunstprofessor und Autor Michael Fried, für den auch Minimal Art nur dann Sinn macht, wenn man sich dazu ins Verhältnis setzt. Komisch, dass ein Künstler, der überwiegend berührende und intime Situationen kreiert, so auf Theorie fixiert ist.
Handfester soll es im Schliemann-Saal zugehen. Dort werden mehrmals täglich bühnenhafte und situative Arbeiten von wöchentlich wechselnden Künstlern zu erleben sein. Maria Francesca Scaroni operiert an der Grenze zum Workshop, die Schauspielerin Claire Vivianne Sobottke provoziert in der Rolle einer Street-smarten Amerikanerin, und obendrauf gibt es auch noch die Artistin Ana Jordão, eine Teezeremonie und weitere Workshops. Das wirkt ein bisschen wie ein Jahrmarkt für Menschen, die eigentlich keinen Jahrmarkt mögen. Als würde da eine gehörige Portion Beliebigkeit mit ein paar theoretischen Phrasen aufgeladen und dann mit revolutionärem Gestus unters amüsierwillige Kunst-Volk gebracht. „Wenn Betrachter und Werk an Distanz verlieren, tritt die Frage nach der energetischen Aufladung, der Dichte und des Grads der eigenen Involvierung in den Vordergrund“, klingelt es in der Ausstellungs-Ankündigung. Von „körperbasierter Praxis“ und „Embodied Aesthetics“ ist die Rede, wenn es um schlichte Dinge wie Atemübungen geht, die man in jedem Yoga-Kurs besser erlernt.
Auch Wolfgang Georgsdorf erscheint auf den ersten Blick, als hätte er eine Lizenz zum Quatschmachen. Der österreichische Multimedia-Künstler hat in den 80ern mit der Gruppe Minus Delta t einen fünf Tonnen schweren Felsbrocken von Europa in den Himalaya transportiert, wir treffen ihn vor seiner Geruchsorgel, die bisher vor allem aus Rohren besteht, aus denen später unterschiedliche Düfte strömen sollen. Breites Grinsen. Doch, doch! Georgsdorf weiß sehr genau, was er da macht. „Es geht in dieser Komposition um die Entstehung der Welt“, sagt er voller Euphorie. „Ich fange mit dem Wasser an, mit dem Ozean, dann gehen wir ins Brackwasser rein und kommen ans Ufer und in feuchte Erde. Später klettern wir die Bäume hoch, riechen Harze, Blüten und dann Früchte, die von Affen gegessen werden. Und die kacken natürlich runter – all das riechen wir.“ Nach allgemeinem Gelächter besorgt Sehgal die kunsttheoretische Absicherung der Geruchsorgel. Der Sehsinn sei ja ein allgemein überschätzter Distanzsinn. Aber beim Riechen flössen die Partikel buchstäblich durch einen hindurch. Georgsdorf setzt noch einen drauf: „Der Geruchssinn hat ja eine Totalität, was die Immersion betrifft. Wenn du einen Duft gerochen hast, egal ob angenehm oder unangenehm, sind die Partikel schon in deinem Körper drin. Deshalb gibt es in unserer Gesellschaft eine Osmophobie, also eine Angst vor Gerüchen, weil das etwas sehr Intimes ist. Kein virtuelles, sondern ein faktisches Eindringen von Molekülen in unseren Körper.“
Tino Sehgal wird jetzt langsam nervös, die Akteure für This Is So Contemporary warten bereits. Trotzdem empfiehlt er noch schnell After Solitary, ein 360°-Video von Nonny de la Peña. Die Journalistin, die der Guardian „Godmother of Virtual Reality“ nennt, ist eine Pionierin des immersiven Journalismus; mit einem Mehr an Technik möchte sie ein Mehr an Empathie erzeugen. In ihrem Video geht es um die Erfahrung von Einzelhaft. „Man sitzt sozusagen mit diesem Typen in seiner Zelle“, sagt Sehgal und winkt schon seinen Leuten auf der anderen Seite des Raums.
Es gibt kein Entrinnen
Eine letzte Frage noch: Muss ich denn immer in alles tief eintauchen, reicht es nicht, wenn ich einfach nur vor einem Bild stehe und darüber reflektiere? Sehgal lächelt und sagt, genau das sei der Kernpunkt: „Gerade weil wir in einer so durchverbundenen Gesellschaft leben, ist es eben auch gut, einen Moment der Ruhe zu haben. In den letzten sechs oder sieben Jahren habe ich deshalb auch vieles gemacht, wo man nicht immer angesprochen oder involviert wird.“ Aha! Doch dann kommt der zweite, eher philosophische Teil seiner Antwort: Es gibt kein Außerhalb der Situation. „Wenn ich in einer Ausstellung ein Bild anschaue, bin ich ebenso umfasst von einer Situation, die ganz bestimmte Details und Konventionen hat. Ich habe mich auf eine bestimmte Weise zu verhalten und werde damit in genau diese Haltung eingeübt.“ Kurz: Es gibt kein Entrinnen. Sobald ich aus einer Situation heraustrete, bin ich bereits in der nächsten.
Auf dem Heimweg lese ich in der Frankfurter Rundschau, dass es noch in diesem Jahr möglich sein wird, das Gehirn des Fußballers Charly Körbel zu betreten. Natürlich nur als vergrößerten Nachbau, ein Projekt des Frankfurter Senckenberg-Museums. Aber Hauptsache, man ist drin!
Info
Philippe Parreno und Welt ohne Außen Gropius Bau Berlin, bis 5. August
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