Wir tanzen wie in einem Dolce Vita

Pop Die Kerzen kommen aus Ludwigslust, haben viel Musik der 80er Jahre gehört und, hurra, sie leben noch
Ausgabe 25/2019

Die 80er sind nicht totzukriegen. Irgendwo, egal ob auf YouTube oder im eigenen Kopf, singt Martin Fry, der Sänger von ABC, immer noch im silberfarbenen Jackett: „Shoot that poison arrow to my heart.“ Gefühle, so groß wie ein Hollywoodstudio. Metaebene und Motown statt Authentizitätsterror und Rock-Rebellentum. Doch die Dinge, aus denen einst glitzernde Träume gemacht waren, sind längst mutiert, führen ein dubioses Eigenleben in der Endlosschleife von Revival-Touren, Plattenbörsen und Motto-Partys. Man hat die Schnauze voll, möchte diesen nostalgischen Generationenvertrag aufkündigen – gäbe es nicht doch immer noch mal einen Grund mitzuwippen.

Zum Beispiel jetzt. Gut 20 Jahre nach dem Beginn des 80er-Revivals veröffentlicht eine junge Band ihr Debütalbum, das sich anhört wie ein Best-of des Jahrzehnts – und trotzdem auch die Zwischentöne trifft. Die universelle Sehnsucht der Kids, abzuhauen aus der Provinz, führt hier zu einer trotzigen Leichtigkeit im Klangbild der Thatcher- und Kohl-Jahre. Die Kerzen – eine Frau und drei Männer – stammen aus Ludwigslust in Mecklenburg, einer dieser Transitstädte, von denen die meisten nur den Bahnhof kennen und eigentlich gar nicht wissen wollen, wie es innen aussieht.

Querflötenträume

True Love, der Titelsong, knüpft an die Tristesse des Pet-Shop-Boys-Klassikers West End Girls an. Auch die Kerzen erzählen vom Leben im öden Nirgendwo der ostdeutschen Provinz, untermalt von den weichen Preset-Sounds alter Synthesizer: „Ich hol dich hier raus“, verspricht der Sänger und spart nicht mit euphorischen Kieksern, während er „Melancholie“ auf „C’est la vie“ reimt. Es ist eine Einkaufstour durch den Supermarkt der real existierenden Popmusik. „Blue Jeans“ stehen hier immer noch für lässige Sinnlichkeit, gepaart mit „einem Duft aus Paris“. Klingt jetzt vielleicht ein bisschen doof, ist aber vermutlich genau so gewollt. Die Kerzen nehmen die 80er auf ironische Weise ernst. Die Querflöte von Jelly del Monaco verleiht den Songs eine träumerische Eleganz, die melancholischen Melodien haben Hit-Potenzial. Ein „Sound of the Suburbs“, auch wenn die Musiker inzwischen nach Berlin geflüchtet sind, wo sie in der Regel vor Gleichaltrigen spielen und nicht etwa im Vorprogramm von Heaven 17.

Trotzdem fragt man sich: Warum kriechen diese netten Twentysomethings bis in die letzten Winkel einer Epoche, die sie nie erlebt haben? Spielen kennerhaft mit Zitaten, Stimmungen und Einflüssen, deren Ursprung sie sicher erst mühsam ergoogeln mussten? Man könnte es sich leicht machen und sagen, es sind halt Nerds – oder „Otakus“, wie die Japaner hingebungsvolle Fans nennen, die ihr Leben ganz nach einer großen Leidenschaft ausrichten. Interessanter ist der Vergleich mit der chinesischen Shanzhai-Kultur. Das Wort bedeutet so viel wie Fake – oder Raubkopie. Westliche Firmen zitterten lange Zeit vor dem Erfindungsreichtum der Asiaten, die jede technische Innovation, jeden modischen Hype kopierten – und dabei dem Original, trotz kleiner Veränderungen, kaum nachstanden. Um bewusste Täuschung geht es dabei nicht, sondern um das Spiel mit dem Original. Auch die Kerzen streben weniger nach Originalität als nach Vervollkommnung und Verdichtung eines längst definierten Sounds und arbeiten mit spielerischer Lust am Verändern, Variieren und Kombinieren eines wohlbekannten Markenartikels.

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True Love Die Kerzen Staatsakt

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