Es gibt ehrenwerte Filme. Sie stammen von einem ehrenwerten Regisseur wie Hans-Christian Schmid, der dafür bekannt ist, nach Stoffen mit gesellschaftlichem Anspruch zu suchen. Sie behandeln ehrenwerte Themen wie die Aufarbeitung der Kriegsleiden in Bosnien. Sie basieren auf ehrenwerten Drehbüchern, die versuchen, Plot und Realismus nicht als Widerspruch zu betrachten. Beim Anschauen weiß der Zuschauer in jeder Minute, dass er einen ehrenwerten Film sieht. Und das ist das Problem.
Das klingt zynisch, ist aber nicht so gemeint. Sturm bringt den Zuschauer in eine unangenehme Situation. Man will den Film gut finden, weil er die Arbeit des Kriegsverbrechertribunals in Den Haag anschaulich macht – eine Aufgabe, an der die deutsche Presse gescheitert ist. Sturm schafft das und hat deshalb sämtliche Besonders-Wertvoll-Prädikate, die er erhalten wird, redlich verdient. Aber leider ist er nicht mitreißend oder bezaubernd. Dafür schmeckt er zu sehr nach Bundeszentrale für politische Bildung.
Sturm hat sich ein komplexes Problem vorgenommen. Der Film zeigt das Dilemma, vor dem die internationale Rechtsprechung steht, wenn sie im Nachgang von Kriegen die Schuldigen nach rechtsstaatlichen Kriterien verurteilen will. Ein Tribunal wie jenes in Den Haag verfolgt zwei widersprüchliche Ziele: Gerechtigkeit für die Opfer einerseits, politische Versöhnung andererseits. Warum und auf welche Weise diese Ziele einander im Weg stehen, zeigt Sturm anhand einer Geschichte um die Anklägerin Hannah Maynard und die Bosnierin Mira Arendt (großartig gespielt von Kerry Fox und Anamaria Marinca).
Mira lebt seit dem Krieg in Berlin. Sie ist mit einem Deutschen verheiratet und hat einen Sohn. Seit 15 Jahren verschweigt sie, dass sie im bosnischen Bürgerkrieg in einem serbischen Vergewaltigungslager war und Schreckliches durchlitten hat. Durch eine Falschaussage in Den Haag versucht ihr Bruder, einen der Täter dingfest zu machen. Als die Lüge auffliegt, begeht er Selbstmord. Hannah überredet Mira, selbst als Zeugin aufzutreten. Schließlich fährt Mira nach Den Haag, obwohl ihre Familie von serbischen Kriegsprofiteuren bedroht wird. Als Mira bereit ist, alles auf die Karte „Wahrheit“ zu setzen, soll ihre Aussage wegen einer prozessualen Absprache doch nicht stattfinden. Hannah findet sich als Anklägerin in einem urdemokratischen und deshalb urtraurigen Konflikt wieder: Sie hat einen angeklagten Kriegsverbrecher, und sie hat eine Zeugin, die seine Schuld beweisen kann. Und doch soll es wegen der Prozesslogik nicht zur angemessenen Verurteilung kommen.
Künstlerische Crux
Sturm erklärt eine Menge Dinge, die nicht leicht zu verstehen sind. Er zeigt ein internationales Gericht, das die hohen Erwartungen der Öffentlichkeit immer wieder enttäuscht hat, weil es ein rechtsstaatliches Verfahren sein will und keine effiziente „Siegerjustiz“. Statt schnellen Erfolgen produziert es juristischen Alltag – Verfahrenstaktik, pragmatische Deals, Beweisprobleme. Es ist auf die Kooperation von Zeugen angewiesen, denen es mangels Ressourcen keinen angemessenen Schutz garantieren kann. Diese Zeugen wurden im Krieg traumatisiert. Die Aussage und die Konfrontation mit den Tätern stellt eine psychische Extremsituation dar. Sie nehmen das alles auf sich, weil sie an Gerechtigkeit und Wahrheit glauben. Trotzdem darf das Gericht auch im Angesicht menschlicher Tragödien nicht mehr als ein juristisches Verfahren sein – und „keine Scheiß-Therapie“, wie es Keith (Stephen Dillane), Hannahs Vorgesetzter, knapp und treffend formuliert.
Das Tribunal in Den Haag hat weder Zeit noch Geld – es soll möglichst wenig kosten und im Jahr 2010 mit seiner Arbeit „fertig“ sein. Zu allem Überfluss muss es für seine Ermittlungen mit den Behörden vor Ort zusammenarbeiten. Zwar ist Bosnien vertraglich verpflichtet, mit Den Haag zu kooperieren. Aber das Land besteht aus zwei Teilstaaten, von denen einer, die Republika Srpska, nicht sonderlich am Verbleib im Gesamtstaat interessiert ist. Ständig droht das Wiedererstarken des Nationalismus oder gar die Sezession, und niemand kann die Frage beantworten, ob die Arbeit des Tribunals in diesem Zusammenhang Fluch oder Segen ist. Wenn Angeklagten der Prozess gemacht wird, die in ihrer Heimat als Volkshelden gelten, lässt sich das leicht von Gegnern der Versöhnung instrumentalisieren. Hannah ist mit einem Unterhändler liiert, der die vormals jugoslawischen Staaten in die EU führen soll. Aus seiner Sicht ist es besser, die Vergangenheit und damit die Toten ruhen zu lassen, um den Lebenden eine möglichst zügige Rückkehr zur Normalität zu ermöglichen. Was wiegt also schwerer – das Schicksal des Einzelnen oder das Wohl der Massen? Der verzweifelte Wunsch nach Gerechtigkeit oder das Diktum der politischen Vernunft?
All diese Fragen und Probleme finden in Sturm ihren Platz. Sie werden anhand der Figuren gezeigt, mithilfe des Plots veranschaulicht und durch Dialoge erklärt. Und hier liegt die künstlerische Crux: in „anhand“, „mithilfe“ und „durch“. Die Figuren bleiben dabei ein wenig auf der Strecke. Sie haben so viel Erklärungs- und Informationslast zu tragen, dass ihre innere Entwicklung zu kurz kommt. Vor allem in der zweiten Hälfte des Films windet sich die Handlung mühsam um politische Interessenkonflikte herum, ohne auf den dramaturgischen Punkt zu kommen. Wie erklärt sich denn die 180-Grad-Wendung von Mira, die plötzlich unbedingt aussagen will, obwohl sie zuvor 15 Jahre lang für ein normales Leben gekämpft hat? Wieso ist sie auf einmal bereit, das Leben ihres Sohns zu gefährden, um den Ränkeschmieden der Kriegsverbrecher in ihrer fernen Heimat die Stirn zu bieten? Warum geht Hannahs Beziehung zu ihrem EU-Unterhändler mit einem Mal in die Brüche, nachdem sie ihn durchs Fenster mit ihrem Vorgesetzten sprechen sah? Haben sich die beiden nie zuvor über ihre jeweiligen beruflichen Ansichten unterhalten? Und weshalb will das Happy-End Hannah völlig überraschend als Heldin sehen, nachdem sich zuvor alles gegen sie verschworen hatte? Bestimmt hat sich Hans-Christian Schmid diese Fragen gestellt. Sturm lässt die Antworten trotzdem hinter den politischen Bildungsauftrag zurücktreten.
Redlichkeit und Mentalität
In Hollywood hätten ein internationales Gericht, eine kämpferische Staatsanwältin, ein Vergewaltigungsopfer und mafiöse Verwicklungen als Zutaten für einen passablen Politthriller dienen können. Fernab davon will Schmid im Kino die juristisch-politisch-psychologischen Folgen eines Bürgerkriegs erklären, der im Fernsehen für uns Westeuropäer unverständlich war.
Ein Paradefall ehrenwerten Anliegens: Sturm wird gute Kritiken erhalten, die angesichts der Wunde „Bosnien“ ein wenig nach Pflichtschuldigkeit riechen. An Gymnasien werden Vertretungslehrer Sturm in den DVD-Player schieben, und er wird einer der besten Filme sein, die Schüler im Unterricht zu sehen kriegen. Wenn ein deutscher Filmemacher Politik und anspruchsvolle Unterhaltung ziemlich nah zusammen bekommt, dann ist das Schmid. Warum das aber doch nie richtig gelingt, wird wohl ein Geheimnis unserer um Redlichkeit bemühten Mentalität bleiben.
Juli Zeh, studierte Jura sowie am Literaturinstitut in Leipzig. 2002 erschien ihre Reiseerzählung Die Stille ist ein Geräusch, die von einer Fahrt durch Bosnien handelt. Mit Bosnien beschäftigt sich auch ihre völkerrechtliche Promotion. Zuletzt erschien: Corpus Delicti und, gemeinsam mit Ilija Trojanow, der Essay Angriff auf die Freiheit. Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte (beide 2009)
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