Aitchison steht in ihrem Keller in Los Angeles. Da ist eine Treppe, ein Feuerlöscher und eine Kommode. Dazwischen hängt eine grüne Plane. Vor der wird gleich Pop passieren. Also: Aitchison wird in einen ebenso grünen Bodysuit davor tanzen, und ein Computer wird all das Grün aus dem Bild herausrechnen, um eine buntere Welt hineinzurechnen. Was aus Charlotte Aitchison in ihrem Keller Charli XCX in ihrem Musikvideo zu Claws werden lässt. Der zweiten Single aus How I’m Feeling Now, Charli XCXs’ Album, das komplett in Isolation entstanden ist. Oder besser: in analoger Isolation. Denn digital ist einiges möglich. Die britische Pop-Songwriterin – am bekanntesten ist wohl ihre 2014er-Hit-Single Boom Clap – ist eine der Musiker*innen, die die Krise bislang am kreativsten genutzt haben. Sie hat ein Album aufgenommen, allein mit dem, was sie zu Hause hat. Und dem, was das Netz beisteuern kann. Ihre Follower auf Instagram lässt sie abstimmen, Artwork malen und im wahrsten Sinne des Wortes „Input geben“.
Wer sich nicht entfliehen kann
Das noch unbearbeitete Green-Screen-Video zu Claws bietet sie als Download an. Kurze Zeit später stellt sie in einem neuen Post fest, dass viele diese Gelegenheit nutzten, um sie in pornografischen Inhalten tanzen zu lassen. Corona hin, Corona her. Das ist das Internet.
Die Musik, die bisher in der Krise entstanden ist, lässt sich grob in drei Lager einteilen: Musik, die die Krise behandelt. Musik, die das nicht tut. Und Musik, die Mut machen will in der Krise, wegen der Krise. Meistens gilt, dass die Musik letzter Kategorie die schlechteste ist. How I’m Feeling Now erzählt mit seinem verzerrten Synthie-Pop nur indirekt von der Krise. In einem öffentlichen Zoom-Chat zum Album sagt Charli, dass sie jeden Tag am Album arbeitet. Also auch an Tagen, an denen sie normalerweise nicht arbeiten würde, weil sie sich nicht kreativ fühlt. Tage, an denen sie normalerweise rausgehen, trinken, Menschen treffen würde. In Isolation aber zwingt sie sich zu Produktivität. Wer sich nicht entfliehen kann, tut das Gegenteil: Er gräbt in sich herum, auf der Suche nach Themen. So erzählt How I’m Feeling Now von der Beziehung zu ihrem Freund. In Forever schwört sie ihm ewige Liebe. Der Song gipfelt in einem Dubstep-Break, in dem alle Schwur in melodiösen Krach zerfällt. Das dazugehörige Video ist eine Collage aus Handyvideos, die Charlis Fans in Isolation aufgenommen haben. Man sieht Spielkonsolen, Schlafzimmer, Online-Bestellungen. Mit dem Break zerfällt das isolierte Jetzt in ältere Aufnahmen von Partys, Festivals, dem Leben in der Menge. Das emotionalisiert auf ungewohnte Art und Weise. Nostalgie empfindet man nun nicht mehr nur für Fernes, sondern auch für Februar. Ein Effekt, auf den Charli XCX auch bei Claws setzt. Textlich ist der Song eine Achterbahn-Sex-Allegorie. Im Video verschwimmt sie mit ekstatischen Fantasiewelten, bis die größte Ekstase auf den Greenscreen projiziert wird: Menschen, die ohne Mindestabstand über eine Straße gehen. Natürlich nur computeranimiert. Das Video gipfelt in einem Zungenkuss. Der orale Austausch ist das Radikalste, was man gerade machen kann. Rührung funktioniert in der Krise über alltäglichere Bilder. Es ist leichter, etwas im Rezipienten zu regen. Zu leicht darf man es sich aber auch nicht machen. Was Bono – der Kopf von U2 – eindrucksvoll beweist. Er sitzt an seinem Klavier im irischen Killiney Beach und sagt in die Kamera, dass hier „a little tune“ komme, den er sich vor einer Stunde ausgedacht habe.
Mach deine Liebe bekannt
Er werde ihn Let Your Love Be Known nennen, sagt er. Dann spielt und singt er, filmt sich. Eine Dreifachbelastung, die dazu führt, dass man sich minutenlang fast ausschließlich Bonos Kinn angucken darf, während er singend fordert, man möge in der Krise doch bitte über den Dächern singen. Unterhaltsam daran ist, dass ausgerechnet beim Singen des Verbes „sing“ Bonos Stimme versagt. Nach vier Minuten und zwei Sekunden bricht das Kunstwerk mitten im Gesang ab. Bono – Generation Boomer – kann also auch nicht besser mit dem Handy umgehen als die eigenen Eltern. Das berührt natürlich auch. Irgendwie.
Das Musikvideo ist in Zeiten mangelnden Kontakts insgesamt wieder wichtiger geworden. Außer bei den Songs, die sich so deskriptiv mit der Krise auseinandersetzen, dass eine Videobegleitung nicht nötig ist. Der britische Singer-Songwriter Matt Maltese gibt in seinen Ballad Of The Pandemic Lyrics Zeilen wie „Death is exponential, but this life is flat“ zum Besten. Und mokiert sich darüber, dass man derzeit dazu aufgerufen ist, seinen älteren Nachbarn zu helfen. Nachbarn – waren die nicht mal der Inbegriff der Nervigkeit? Ähnlich deskriptiv getextet ist Life in Quarantine des Death-Cab-For-Cutie-Sängers Ben Gibbard. Er singt von einer Stadt, die sich so leer anfühlt, wie sie es sonst nur an Weihnachten tut. Und – er ist Amerikaner – von „kommunistischen Zuständen“ im Supermarkt. Dazu begleitet er sich selbst auf der Gitarre. Der jeweilige Umgang mit der Krise verrät einiges über das Selbstbild der Künstler*innen. Gibbard und Maltese sehen sich als am Rand stehende, leicht zynische Beobachter. Bono glaubt, dass etwas, das er sich vor einer Stunde, ausgedacht hat, die ganze Welt retten kann. Und Charli XCX nutzt die Krise – ganz Generation Y –, um sich auf ihr Innerstes zurückzuziehen. Dieses Zurückziehen muss sie natürlich produktiv verwerten, wobei sie sämtliche technischen Möglichkeiten des Jahres 2020 in Anspruch zu nehmen hat, bei gleichzeitigen, ständigen Wasserstands-Updates per Social Media. Die moderne Künstler*in ist eine Art Vorsitzende einer Gemeinschaftswerkstatt.
Die Ärzte pflegen zu ihren Fans noch die alte religiöse Beziehung. Sie liefern einen selbstreferenziellen Warteschleifen-Song. Ein Lied für Jetzt zeigt sie in einer Art Videotelefonieschalte. Sie singen: „Wir sitzen zu Hause und langweilen uns. Drum haben wir dieses Lied hier hingehunzt.“ Hinter alle entwaffnende Ehrlichkeit schieben sie, dass sie gerade an einem neuen Album schreiben und mit Ein Lied für Jetzt nur die Wartezeit erträglicher machen wollen. Es ist Werbung als Sakrament. Viel heilsamer kommt eine der unwahrscheinlichsten Veröffentlichungen daher. Abstand Halten! des Hamburger Musikproduzenten Ralf Goldkind war ursprünglich mal als Song über einen Stalker gedacht. In der Isolation veröffentlicht, wirkt das alte Wave-Punk-Demo so angenehm nach Achtzigern, dass man das Gefühl bekommt, das, was gerade passiert, ist eigentlich schon längst vorbei. Und das ist doch das angenehmste Gefühl.
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