Hartz IV lässt grüßen

Impfkampagne Die Logik des Drohens und Strafens ist kontraproduktiv und gefährlich
Ausgabe 32/2021

Wissen Sie noch, worüber man sich in den Monaten vor Corona innenpolitisch so aufregte? Die Kassenbon-Pflicht für kleine Büdchen kann hier wohl vernachlässigt werden. Doch an ein anderes Thema des Winters 2019/2020 fühlt man sich dieser Tage lebendig erinnert: an die zum März 2020 in Kraft getretene Pflicht, kleine Kinder gegen Masern zu impfen.

Denn während die Menschen den Sommer genießen, während Eis, Urlaub und Biergarten postpandemische Normalität verheißen, beginnen die steigenden Inzidenzwerte, die Erinnerungen an den Spätsommer und Herbst 2020 sowie die Nachrichten über die Mutationen des Virus auf die Stimmung zu drücken. Abhilfe schaffen soll die Covid-Impfung, von der man sich eine Herdenimmunität verspricht. Doch während zu Beginn der Impfkampagne die geringe Menge an Impfdosen zu Frustration führte, ist jetzt der erwartbare Gegeneffekt da: Es fehlt an Impfwilligen.

Das Stocken der Impfkampagne wird zusehends zu einem gesellschaftlichen Kampffeld. Denn oft wird angenommen, die Ursache hierfür sei eine „Impfverweigerung“, also eine aktive, durchdachte Entscheidung gegen die Impfung. Die Verantwortlichen betonen, niemand habe die Absicht, eine Impfpflicht einzuführen, und derzeit gibt es keine Anzeichen für ein Umschwenken. Aber an Stammtischen, in sozialen Medien und teils auch in der Presse wird der Ruf schon lauter.

Auch eine soziale Frage

Die Annahme einer weit verbreiteten „Impfverweigerung“ ist aber falsch. Nach der Online-Befragung COSMO (COVID-19 Snapshot Monitoring) der Uni Erfurt will sich weiter eine Mehrheit impfen lassen. Zusammengenommen weniger als 15 Prozent „verweigern“ eine Impfung tatsächlich oder zögern mit der Entscheidung. Zugleich gibt es eine Gruppe unsicherer Personen – sowie jene, die bereit sind, aber trotzdem noch nicht geimpft. Wie diese Menschen möglichst zügig überzeugt werden können, ist nun die Frage für Politik und Gesundheitswesen, während die Debatte hochkocht.

Wie ist dem zu begegnen? Hinsichtlich der noch ungeimpften Impfbereiten ließe sich zunächst – eigentlich? – an alltäglichen Hindernissen ansetzen: Die Impfung kann noch immer mit mühsamen Anfahrtswegen einhergehen. Die Terminfindung kann mit Schichtdiensten kollidieren oder die Frage aufwerfen, wer sich währenddessen um die Kinder kümmert. Es gibt durchaus Leute, für die ungeplante Mehrkosten für Tickets oder Babysitter eine Herausforderung sind.

Neben diesen materiellen stehen aber auch habituelle Hürden. Jetzt noch Ungeimpfte folgen nicht immer den gleichen Anreizen, Erwägungen und Verhaltensweisen wie offenbar diejenigen, die sich aus Angst um die eigene Gesundheit oder im Sinne eines solidarischen Aktes früh und fleißig um ihre Termine bemüht haben. Wie Benjamin Wachtler vom Vorstand des Vereins demokratischer Ärztinnen und Ärzte jüngst im Freitag-Interview gesagt hat, ist die Impfbereitschaft eine soziale Frage, bei der etwa Diskriminierungserfahrungen relevant sind: Wer sich uninformiert und unverstanden fühlt, wer vor Sprachbarrieren steht oder „Ämter“ generell als unfreundlich wahrnimmt, begegnet auch dem Gesundheitswesen mit Misstrauen. Ganz, wie der Mediziner Wachtler sagt, fehlt es hier an lokalen Strukturen der Gesundheitsförderung, an milieusensiblen Erfahrungen in konkreten Quartieren.

Das „habituelle“ Problem beginnt aber, so der Medizinethiker Heiner Fangerau, bereits beim Finden von Wegen, auf denen die zahlreichen Informationen zur Lage ihr Ziel auch erreichen. Laut COSMO informiert sich weniger als die Hälfte der Ungeimpften regelmäßig zur Corona-Situation, fast 30 Prozent tun das gar nicht. Dies ist aber nicht einfach „unverantwortlich“, „irrational“ oder „unsolidarisch“. Dass marginalisierte Schichten nur „zum Doktor gehen“, wenn ein Gesundheitsproblem den Alltag unerträglich beeinträchtigt, zeigt schon die klassische Studie Schmerz. Eine Kulturgeschichte des Anthropologen David Le Breton. Vielleicht im Bourdieu’schen Sinn lässt sich hinzufügen: Bei der Ausprägung eines „Gesundheitsbewusstseins“, das auf eine abstrakte Herdenimmunität zielt, ist es hilfreich, in sozialen Kontexten zu leben, die eine gedankliche Distanzierung vom eigenen Körper befördern.

Jedenfalls wird hier ein weiteres Internet-Angebot der Bundesregierung oder der nächste Zeitungsartikel kaum weiterhelfen. Eher bedarf es des Stadtteilfests mit niedrigschwelligem Beratungsangebot und sprichwörtlicher Bratwurst. Von der Spritze beim öffentlichen Training des 1. FC Köln bis zu den Berliner Impfnächten von Rotem Kreuz und Clubcommission gibt es viele Angebote, die versuchen, verschiedene Lebensrealitäten zu verstehen und darin zu agieren. Trotz des offensichtlichen Eigeninteresses, weitere Lockdowns zu vermeiden, könnten auch die jetzt vom Handelsverband angekündigten Impfungen auf dem Supermarkt-Parkplatz helfen.

Jetzt bloß kein Blame Game

Weniger kreativ bei der Förderung dessen, was Jens Spahn einen „patriotischen Akt“ nennt, zeigt sich bisher das Bundesgesundheitsministerium. Vor den Bund-Länder-beratungen dieser Woche wollte der Minister den Druck auf Ungeimpfte durch Sanktionen erhöhen, durch strengere Kontaktbeschränkungen oder den Ausschluss von Freizeitveranstaltungen – selbst bei negativen Tests, die zudem nur noch für Geimpfte kostenlos sein sollen.

Der populäre Ruf nach Druck und Sanktionen wird uns die kommenden Monate begleiten. Er erinnert zuweilen an andere Disziplinierungs-Diskurse, die dafür sorgen sollen, dass sich Bürgerinnen und Bürger auf eine bestimmte Art und Weise verhalten – etwa rund um den „aktivierenden Sozialstaat“, der als problematisch markierte Arten der Lebensführung zu beeinflussen trachtet. Auch hier wird das Erreichen eines Ziels – des Austritts aus dem öffentlichen Transfersystem – nicht als soziale Frage konzipiert, sondern auf der Ebene individuellen Verhaltens problematisiert. Statt die Bedingungen zu verbessern, möge sich das Individuum ändern. Sonst wird gekürzt – ob an Arbeitslosenhilfe oder Sozialkontakten.

Die Analogie zwischen Impf- und Hartz-Sanktionen trägt noch ein Stück weiter. Da Bestrafung mit „Schuld“ assoziiert ist, läuft der Sanktionsdiskurs Gefahr, die ganze aufgestaute Wut über die Pandemie auf „die Impfverweigerer“ zu lenken, die als homogene Gruppe in dieser Anprangerung erst erfunden werden. Denn nach dem Motto „Viel Feind, viel Ehr“ realisieren sich solche polarisierenden Zuschreibungen schnell.

Wenn wir also wirklich ein Interesse an postpandemischer Solidarität haben, wird es nicht reichen, zu drohen und zu strafen. Nicht bei denen, die aus habituellen Gründen zum Gesundheitssystem Abstand halten – und schon gar nicht bei denen, die eine Impfung tatsächlich aktiv ablehnen, aus welchen Gründen auch immer.

Zu Recht wird Solidarität mit jenen Gruppen eingefordert, die nicht geimpft werden können. Diese Menschen werden durch ungeimpfte Personen deutlich mehr gefährdet als durch solche mit Impfschutz. Solidarität bedeutet aber ebenso, diejenigen Personen, die aufgrund persönlicher und struktureller Bedingungen einen erschwerten Zugang haben, mitzudenken und ihnen gangbare Wege zur Impfung zu öffnen.

Das Blame Game aber, das in Spahns Diskurs des Drohens und Strafens – und potenziell des Verordnens – mitschwingt, hat seine Effekte schon gezeigt. Rund um die Entscheidung für eine Masern-Impfpflicht im Herbst 2019 entspann sich von heute-show bis Deutschlandradio eine hämische, aggressive Debatte um esoterische Eltern, die mit ihrer „Impfverweigerung“ den Nachwuchs der Vernünftigen gefährdeten. Das war, wie die Public-Health-Politologin Irene Poczka geschrieben hat, der reinste „Volksgesundheitspopulismus“, denn tatsächlich klaffte die Impflücke gar nicht so sehr bei den Kleinkindern. Sondern nicht zuletzt bei Erwachsenen der Jahrgänge 1970 bis 1980, die als Kinder nach damaligem Wissen nur einfach geimpft worden waren – und nun oft nicht wussten, dass eine Auffrischung nötig ist.

Bei Covid ist die medizinische Lage selbstverständlich anders. Doch warnt schon die Begleitmusik zu den im Vergleich gut beherrschten Masern davor, welch ungute Dynamik Debatten um kollektive Gesundheit entwickeln können. Noch mehr Fingerzeigen, noch mehr nutzlose Polemik kann sich schon für heute und morgen niemand wünschen – ganz zu schweigen von einem Übermorgen, für das eine Seuchendebatte um Schuld und Strafe Sedimente bilden könnte.

Julia Hahmann ist Soziologin und lehrt an der Universität Vechta

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