Die Bürokratie der Nazi-Kerker

Dokumentation Ute Adamczewskis „Zustand und Gelände“ zeigt Orte mit NS-Geschichte
Ausgabe 24/2021

Deutsche Kleinstädte in winterlichem Grau: Straßen und Plätze, Wohnhäuser, Herrenhäuser, Festungen, Fabrik- und Turnhallen. Was die Gebäude verbindet, ist, dass sie in der NS-Zeit als Gefängnisse genutzt wurden. So unspektakulär viele der langen Einstellungen in Zustand und Gelände, so förmlich die Sprache vieler Briefe, die im Off vorgelesen werden: Es handelt sich um bürokratische Schriftstücke aus der NS-Zeit. Ihr Inhalt ist spektakulär in seiner Grausamkeit: Das Schicksal der Insassen von Gefängnissen und Lagern wird darin verhandelt. Die meisten solcher Gefängnisse, erfahren wir, gab es in Sachsen. Das Bundesland, mit dem man heute politisch vor allem eine starke Neonazi-Szene assoziiert, wurde in den 20er Jahren von Kommunisten und Sozialdemokraten regiert und galt als eine Hochburg der Arbeiterbewegung. Hier und in Thüringen formierten sich die „Proletarischen Hundertschaften“, wie sich die paramilitärischen sozialistischen Mannschaften nannten, die 1923 versuchten, die Macht in der Weimarer Republik zu übernehmen. Die Nazis hatten also allen Grund, hier Widerstand zu erwarten.

Viele der Briefe stammen von den lokalen Verantwortlichen für die Lager. Deren Darstellung werden Gedächtnisprotokolle von überlebenden Gefangenen gegenübergestellt. Hinzu kommen immer neue Perspektiven: die Ehefrau, die beteuert, dass ihr Mann seinen Irrtum eingesehen habe und von ihm keine Gefahr für die Volksgemeinschaft mehr ausgehe. Der Koch, der sich um eine Stelle in einem Lager bewirbt. Die Bestellung von 1.500 Schlafdecken für Häftlinge, die bald gebraucht werden. In der Summe dieser Texte offenbart sich die bürokratische Kleinteiligkeit, in der das totalitäre Regime seine Macht ausübte.

Das Textgeflecht aus Berichten, Anordnungen, Anfragen und Bestellungen erweist sich als extrem ergiebig, um die Herrschaftsstrukturen der Zeit zu beschreiben. Die Dokumente veranschaulichen, wie jedes Rädchen im Getriebe seine Funktion erfüllt. Auch die Komplizenschaft lokaler Unternehmen bei der Ausbeutung der Häftlinge wird thematisiert. Einzelne Dokumente aus der DDR-Zeit wiederum deuten den Wandel der Gedenkdiskurse an.

Der vertraute Klang der Behördensprache schlägt die Brücke von der Ungeheuerlichkeit von damals zum Heute. Was es bedeutet, in einer totalitären Gesellschaft zu leben, schildern diese Briefe plastischer, als irgendein Historienschinken es könnte.

Ute Adamczewskis Film steht in der Tradition von Claude Lanzmanns Shoah. Er verweigert sich der Dramatisierung, stattdessen geht es ihm um Bestandsaufnahme, Betrachtung, Zuhören, Reflexion. Doch statt wie Lanzmann Menschen aus Fleisch und Blut sprechen zu lassen, zieht Adamczewski das geschriebene Wort heran. Nun hat sie, 35 Jahre nach Lanzmanns Film, auch keine andere Wahl: Fast alle Verfasser dieser Briefe dürften inzwischen verstorben sein. Geblieben sind ihre Texte.

Doch auch in den Bildern fällt die Abwesenheit von Menschen auf. Auch bei intakten Gebäuden bleiben die, die sich dort aufhalten, im Film unsichtbar. Lediglich ein paar Passanten durchqueren das Bild. In vielen Einstellungen wirken die Gebäude wie Exponate in einem Freiluftmuseum, das gerade geschlossen ist. Hier und da dringen Menschen in die Bilder ein. Plötzlich scheint die Kamera von ihnen fasziniert: eine Gruppe Jugendlicher, die in einer Turnhalle trainiert. Schlittschuhläufer auf einem öffentlichen Platz, Kinder auf einer Parkbank. Es sind die besten Momente im Film. Denn hier kommen die Worte von damals wirklich mit der Gegenwart in Verbindung. Das ist die größte Chance dieses Konzepts: zu zeigen, wie die Gebäude weiter genutzt werden, die Gegenwart mit der Erinnerung zu überlagern und Kontinuitäten sichtbar zu machen.

Info

Zustand und Gelände Ute Adamczewski Deutschland 2019, 118 Min., Grandfilm

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