Der Komponist Hans List, eben noch im Pariser Mai 1871 auf der Seite der Kommune kämpfend, sieht sich als Zeitreisender ins Berlin unserer Gegenwart versetzt. Auf unerklärliche Weise landet er zunächst als Statue auf einer Ausstellung zum 150. Jahrestag deutsch-französischer Beziehungen, ein für das deutsche Strafgesetzbuch wichtiges Datum, dessen Implikationen Max Linz in seinem zwischen Satire und Historienfilm angelegten L’état et moi nachgeht.
Kaum zum Leben erwacht, wird Hans List prompt schon vor dem Museum von der Polizei festgenommen; er hatte mit der ihm von der Museumswärterin solidarisch angebotenen Zigarette versehentlich das Deutschlandfähnchen am Auto des Justizministers angezündet. Es soll nicht der letzte Konflikt mit der Ju
Konflikt mit der Justiz bleiben, den der Komponist – systematisch missverstanden als „Kommunist“ – in dieser Schelmengeschichte erlebt.Mit der Plausibilität nimmt es der Film nicht so genau: So verkörpert Sophie Rois in einer Doppelrolle sowohl den zeitreisenden Komponisten als auch die Richterin Praetorius-Camusot. Die äußere Ähnlichkeit der beiden wird von anderen Figuren aber erst gegen Ende des Films bemerkt – und von Praetorius-Camusot selbst vehement abgestritten. An weiteren Charakteren treten auf: ein so tollpatschiger wie dümmlicher Rechtsreferendar, ein Polizist mit Preußenfetisch und Vaterkomplex, ein eitler Staatsanwalt ohne Moral, besagte kettenrauchende Museumswärterin mit Klassenbewusstsein, Céline, die Nichte der Richterin und opportunistische Cellistin, und noch einige mehr.Immer wieder geht es um das Verhältnis zwischen Staat und Individuum. Der Zeitreisende als „Sans Papiers“ hat hier, ohne Sprache und Gesetze zu kennen, einen schwachen Stand. Seine Richterin genießt unterdessen als Beamtin mit Staatsoper-Abonnement samt Freundeskreis-Mitgliedschaft ein bequemes Leben. Zu zeigen, wie sehr dieses Verhältnis historisch bedingt ist, ist ein zentrales Anliegen des Films.Die Beziehung unserer Gegenwart zur Geschichte – im Zeitreisenden Hans List personifiziert – wird auf mehreren Ebenen verhandelt. Als Hans List an der Staatsoper zu den Proben von Die Elenden erscheint – er selbst hat 1871 Victor Hugo als Oper adaptiert – ist die Kostümbildnerin von seinem Mantel ganz begeistert, weil sie ihn als historisches Original erkennt. Dank dieses Kostüms, mit dem er hier völlig unauffällig ist, findet er in der Kulturinstitution eine Art Asyl, wo man ihn liebt und verwöhnt. Der Fetisch fürs Historische verbindet sich mit dem Fetisch für die Kunst. Weniger Glück hat er jedoch, als man ihn für einen Bewerber auf den Job eines historischen Kutschenfahrers hält. Mit den aktuellen Verkehrsregeln nicht vertraut, verursacht er prompt einen Unfall und handelt sich eine Anklage wegen Vorbereitung einer staatsgefährdenden Straftat ein.Geschichte wird gemachtAuf verschmitzte Weise macht der Film deutlich, dass hier einerseits das Historische inszeniert und zelebriert wird – auf der Opernbühne ebenso wie in der Ausstellung über die deutsch-französischen Beziehungen –, dass andererseits aber reale Kontinuitäten wie die des deutschen Strafgesetzbuches, das in die Anfänge des Deutschen Reichs zurückdatiert, unreflektiert bleiben.Rund um die Staatsoper herum wird die historische Mitte Berlins zur Filmkulisse, jedoch ohne jede Authentizitätsbehauptung – im Gegenteil: Durch sorgfältig ausgewählte Bildausschnitte definiert die Kamera jeweils die Bühne, die bespielt wird, doch der Eindruck eines zusammenhängenden Stadtviertels stellt sich nicht ein. Dieser Kulisseneffekt wird von der Cellistin Céline ironisch kommentiert, wenn sie beklagt, dass es hier sowieso keine echten Restaurants mehr gebe, nur noch Kulissen für Touristen. Worauf man sich fragt, was ein Kulissenrestaurant eigentlich von einem echten unterscheidet.Eingebetteter MedieninhaltL’état et moi nimmt sich die Freiheit, die Mittel des Theaters einzubeziehen, und erinnert – gerade in seinen komischsten Momenten – an den Stummfilm. Das gilt nicht nur für Bildausschnitt und Montage, sondern besonders auch für das Spiel der Darsteller*innen, die Bühnen füllen könnten, aber jede realistische Inszenierung sprengen würden. Worttiraden, Gefühlsausbrüche und Pantomime bis hin zum puren Slapstick – das alles liegt weitab von jenem Minimalismus, der im konventionellen, aber auch in einem Großteil des experimentellen Kinos dominiert.Auch noch auf einer anderen Ebene geht es in L’état et moi um die Rolle der Inszenierung: etwa wenn Richterin Praetorius-Camusot sich dazu hinreißen lässt, es ein wenig zu bedauern, dass dem formalisierten deutschen Expertenrecht die Dramatik amerikanischer Gerichtsdramen fehlt, oder wenn sie den Gerichtssaal mit seiner Tribüne als „Puppenkiste“ bezeichnet. Das ambivalente Verhältnis zwischen Institutionen der Justiz und der Kunst wird beleuchtet, wenn die Gerichtspräsidentin zusammen mit dem Justizminister darüber frohlockt, im Besitz einer Logenkarte für Die Elenden zu sein. Solange es nur auf der Bühne stattfindet, hat der Justizminister auch nichts dagegen, wenn die Kunst zum „Vorboten des kommenden Aufstands“ wird.Hier schließt sich der Kreis. Das Theater rekrutiert seine Komparsen bei den Obdachlosen und Geflüchteten und „stellt ein Honorar in Aussicht, das sich am Mindestlohn orientiert“ – eine Formulierung, die offen lässt, ob es überhaupt ein Honorar gibt und wie sich dieses vom Mindestlohn unterscheidet. Das Theater ist Teil des Systems, angewiesen auf das Wohlwollen der Funktionäre. Es kann deshalb höchstens temporärer Zufluchtsort sein.Wer in L’état et moi die groß angelegte Systemkritik sucht, wird sich verlieren. Der Film macht sich einen Spaß daraus, Zusammenhänge anzudeuten, zu übertreiben, zu polemisieren, aber dann auch wieder darüber hinwegzugehen. Wem es auf Eindeutigkeit und Geschlossenheit ankommt, der mag das als frustrierend empfinden. Befreit man sich aber von der Erwartung einer lückenlosen Deutung, dann kann man sich einfach an der Vielschichtigkeit und dem Reichtum der Verweise freuen. Wenn die Polemik didaktisch wird, dann allenfalls für kurze Momente. Die Spielfreude in diesem Film lässt es schnell wieder vergessen.Placeholder infobox-1
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