Ein Rascheln, ein Rauschen, dann wieder Stille, dazu ein milchiges Bild, das nichts Konkretes zeigt. Das ist Ahmed, der schläft. Noch im Wachzustand hat er die Livestreaming-App Periscope geöffnet und damit die ganze Welt eingeladen, Teil seiner Nacht zu werden. Tatsächlich gibt es außer mir noch zwei weitere Personen, die Ahmeds Atemgeräuschen auf ihren Smartphones folgen.
Das Beispiel des schlafenden Mannes spiegelt meinen Eindruck der App nach einigen Wochen der Nutzung recht gut. Was ich bisher gesehen habe, lässt sich in erster Linie als Selfie-Content in Bewegtbildform bezeichnen: Reading and chatting with Cinda, Watching movies, About to take a shower, Let’s start the day with chicken! – so lauten die verheißungsvollen Titel der Video-Livestreams. Ein Zapping durch das Leben Fremder. Oder durch das von Bild-Chef Kai Diekmann, der morgens schon mal live aus seinem Hühnerstall in Potsdam streamt.
Testfall Baltimore
Zugegeben, bei aller Banalität birgt es eine gewisse Faszination, in Wohnzimmer am anderen Ende der Welt oder in der Nachbarschaft hineinschauen zu können. Nach ein paar Sekunden ist es aber vor allem eines: unfassbar langweilig! Schalke 04 hat zumindest das Marketingpotenzial erkannt und Anfang April erstmalig eine Pressekonferenz via Periscope gestreamt.
Twitter hat das Start-up Anfang des Jahres für 100 Millionen Dollar gekauft. Seit Ende März ist die gleichnamige App über iTunes erhältlich, die Bereitstellung für Android soll folgen. In den ersten zehn Tagen verzeichnete Periscope bereits eine Million registrierte Nutzer. Mit der App lassen sich Videos in Echtzeit streamen und mit dem eigenen Twitternetzwerk teilen. Reinschalten kann aber grundsätzlich jeder, der sie installiert hat. Außerdem ist sie partizipativ angelegt: Über ein Chatfenster ist es möglich, Fragen zu stellen oder Feedback zu geben. Und auch für die ganz großen Emotionen gibt es ein Ventil: Ein wildes Tippen auf das Display lässt bunte Herzchen aufleuchten. Facebook-Likes sind von gestern, bei Periscope gibt es wahre Liebe zu verschenken.
Doch hinter dem Kitsch und der Trivialität könnte sich durchaus revolutionäres Potenzial verbergen, allen voran für die journalistische Berichterstattung. Bilder jeglicher Ereignisse können direkt und kostenlos auf Knopfdruck von jedem Ort der Welt versendet und über das Kurznachrichtennetzwerk Twitter geteilt werden – vorausgesetzt, man verfügt über eine schnelle und stabile Internetverbindung mit ausreichend großem Datenvolumen. Jeder kann so unmittelbar zum Reporter werden – Periscope als ein potenziell wertvolles Tool für den Bürgerjournalismus. Dieser Meinung ist zumindest der Journalist und Blogger Richard Gutjahr. Er charakterisiert die App als zukunftsweisendes Medium, das unseren Blick auf die Welt verändern wird. Anders als bei Youtube-Videos stellt sich die Frage der nachträglichen Bildbearbeitung nicht. Interessant ist auch das Moment der unmittelbaren Zeugenschaft: Durch die Anteilnahme an der Liveübertragung wird man auf eine abstrakte Weise zum Mitwisser, zum Eingeweihten, der in die Pflicht genommen werden kann.
Tatsächlich bietet Periscope die Option, einen aperspektivischen Blick auf Geschehnisse zu erlangen, der sich authentischer, näher und echter anfühlt als die gewohnte Berichterstattung. Erkannt hat das etwa Paul Lewis, Washington-Korrespondent des Guardian. Während der Unruhen in Baltimore streamte er über sein Smartphone Livebilder und -interviews mit Protestierenden. Im Dialog mit den Zuschauern entstanden so dichte Bild-Text-Collagen.
Aber auch für subversive Zwecke ist Periscope einsetzbar: Ein virtueller Flashmob könnte die Plattform mit einem politischen Thema fluten. Die Chatfunktion könnte im Rahmen einer Kunstaktion als Fernbedienung fungieren, indem die Eingaben des Users in konkrete Handlungen umgesetzt werden. Vorstellbar sind auch kollaborative Arbeiten, indem mehrere Smartphones im Streamingmodus verschaltet werden: Feedback und Feedforward.
Bei allen Gefahren, die das Medium grundsätzlich birgt – zuvorderst Voyeurismus –, ist doch die Frage spannend, welchen Einfluss Periscope auf die Kunst nehmen wird. Von jeher waren es Medienkünstler, die neue Technologien ausgelotet, ihre Möglichkeiten und Begrenzungen aufgezeigt und kritisch reflektiert haben. Die auftretenden Latenzen bei der Bildübertragung könnten zum Beispiel kreativ genutzt werden und unserer Wahrnehmung einen (Zerr-)Spiegel vorhalten. Was ist „jetzt“? Was ist „Echtzeit“? Was bedeutet „live“ wirklich, und was heißt das für Kategorien wie „wahr“ und „authentisch“? Oder, wie Florian Ebner, der Kurator des Deutschen Pavillons in Venedig, kürzlich über die Forschungsarbeiten seiner Künstlerin Hito Steyerl sagte: Was ist heute eigentlich das Bild im Zeitalter der Algorithmen?
In den 60er Jahren wurde die Videokamera ein wesentliches Mittel der Performancekunst, um Aktionen zu dokumentieren. Nun rückt auch hier das Moment der Liveness wieder in den Fokus, das Ephemere gewinnt über die Möglichkeit des Archivierens. Denn der Stream ist bei Periscope nur 24 Stunden abrufbar. Danach verschwinden die Inhalte wieder. Mit der nahezu vorhandenen Simultaneität von Senden und Empfangen geht auch eine neue Form der Selbstinszenierung einher, die künstlerisch erforscht werden könnte. Wegweisend auf dem Gebiet der (medialen) Konstruktion von Identität sind etwa die Arbeiten von Lynn Hershman Leeson. Von 1970 bis 1979 verkörperte sie die fiktive Figur Roberta Breitmore. Diese Verwandlung fand zunächst im realen öffentlichen Raum statt, bis 1998 setzte die Künstlerin das Leben ihres Alter Egos dann mit dem Projekt CybeRoberta im virtuellen Raum fort. Eine solche Form (medial) konstruierter Identität ließe sich nun für das Medium Periscope weiterdenken.
Die Popularität der App sagt viel über unsere Faszination am Bewegtbild aus. Der Starkurator Hans Ulrich Obrist etwa ist Fan der ersten Stunde und nutzt Periscope für Liveinterviews mit Regisseuren, Künstlern und Schriftstellern wie Gustav Metzger oder Douglas Coupland. Tatsächlich ist „bewegt“ hier auch wörtlich zu verstehen: Sender und Empfänger sind häufig in Bewegung, allein durch das Wegfallen eines Stativs hält das gesendete Bild nie still. Daraus resultiert eine Beschleunigung der Bilder, als „Bilder to go“ könnte man sie schlagwortartig charakterisieren. Hinzu kommt der Aspekt der Bilderwanderung: Die Livebilder verteilen sich auf Handys weltweit und versenden sich in die tiefsten Verästelungen des Twitternetzes.
Geschlossenes Ökosystem
Inwieweit Periscope tatsächlich der Raum für künstlerische Freiheit wird, ist schwer vorhersehbar. Jedoch wirkt das Ökosystem Twitter/Periscope recht geschlossen. Das ergibt aus Twitter-Sicht natürlich Sinn, und auch der Nutzer profitiert durchaus von einem bereits vorhandenen Netzwerk. Eine Spielwiese für Kunst via Livestream bietet jedoch vermutlich eher die konkurrierende App Meerkat. Sie war noch zu Beginn des Jahres als die Killer-Applikation für Livebroadcasting gefeiert worden. Auch Meerkat funktioniert über eine tiefe Integration in das Twitternetzwerk. Twitter jedoch hatte eigene Pläne, kappte Meerkat wesentliche Funktionen, veröffentlichte Periscope und setzte damit zum Siegeszug an.
Anfang Mai hat Meerkat nun einen klugen Schritt getan, um sich von Periscope zu emanzipieren und die Kreativen auf ihre Seite zu ziehen: Die App verfügt jetzt zusätzlich über eine offene Entwicklerplattform und hofft mit der Bereitstellung der Programmierschnittstelle (API) auf eine kreative Community, die den Livestreamingdienst in ihre eigenen Projekte integriert und ständig verbessert. Ihr Gründer Ben Rubin setzt also auf die Weisheit und Kreativität der Vielen.
Letztendlich geht es aber den Machern beider Dienste primär darum, den immensen neuen Markt der partizipatorischen Medien anzuführen. Wie heiß umkämpft er ist, zeigt die Frequenz an Neuigkeiten. Gerade hat Meerkat mit der Anbindung an Facebook sowie einer Android-Version wieder einen Etappensieg erreicht. Ben Rubin sagte in einem Interview, dass bis dato niemand wisse, was ein guter Livestream sei und wie sich das Medium entwickeln werde. Vielleicht ist Livebroadcasting der Beginn einer neuen Kulturtechnik. Das aber hängt dann von den Inhalten jenseits von Schlaf-, Frühstücks- und Hühnervideos ab.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.