Vinyl-Nerds auf Jagd

Musik Schallplatten erleben seit Jahren eine Rückkehr. Am „Record Store Day“ soll die Vinylkultur besonders gefeiert werden. Doch die hat sich über die Jahre verändert
Ausgabe 35/2020
Nach der Schallplatte der NASA „The Sounds of Earth“ können Vinylfans lange suchen
Nach der Schallplatte der NASA „The Sounds of Earth“ können Vinylfans lange suchen

Foto: NASA/Hulton Archives/Getty Images

Brrrrt, knister. So klingt es, wenn man über Musik Bescheid weiß. Obwohl einem das Prinzip LP mit seiner Dramaturgie, seinen Interludes und Hidden Tracks heute rührend altmodisch vorkommt, sind Schallplatten ungeschlagen als Fan- und Auskenner-Artefakt. Um die lange bedrohte Vinylkultur zu hegen und zu pflegen, wurde vor zwölf Jahren der Record Store Day in den USA als Feiertag der unabhängigen Plattenläden ins Leben gerufen. Mittlerweile sind Läden auf der ganzen Welt dabei. Nachdem das traditionelle Datum im April Pandemie-bedingt ausfiel, finden nun an drei Samstagen – am 29. August, am 26. September und am 24. Oktober – sogenannte RSD Drops statt. So heißen die Sonderveröffentlichungen, die sich Künstler und Labels jedes Jahr exklusiv überlegen. Partys und Konzerte fallen wegen Corona aus, es gibt nur die Sondereditionen, die den Independent-Läden und -Labels in der Regel prächtige Umsätze in die Kassen spülen.

Der Record Store Day ist ein Erbe aus einer Zeit, in der die Musikbranche unter dem Plattensterben ächzte. Heute sieht die Situation ein wenig anders aus: In Deutschland steigen die Umsätze mit Schallplatten, 2019 wurden erstmals seit 30 Jahren mehr Vinyl-LPs als CDs verkauft. Am kaufkräftigsten sind analog sozialisierte Musikfans und Millennials, die Schallplatten als Distinktions- und Sehnsuchtsobjekt entdeckt haben. Käufer von 50 bis 59 Jahren machten im vergangenen Jahr 31 Prozent, von 30 bis 39 Jahren 29 Prozent des Vinyl-Jahresumsatzes.

Auch die guten Gründe, seine LPs im Shop nebenan zu kaufen, sind bekannt. Popfans mit Ethos wollen schließlich die Fußgängerzonen vor Jeff Bezos’ Allmacht, kleine Bands vor den Hungerlöhnen der Streamingdienste bewahren – und eine ganze Branche vor der Gratismentalität. Ein Aktionstag ist zusätzlicher Anreiz, ein wenig Zeit und Geld in Fantum zu investieren – bringt aber auch Nachteile mit sich.

Anruf in Hamburg. Jakob Groothoff ist seit 2010 Geschäftsführer von Hanseplate in Hamburg, einem Laden, der neben Vinyl auch allerhand tollen Kram führt, der berühmt ist als Szene-Treffpunkt und für seinen legendären Newsletter, den der Autor und Musiker Gereon Klug verfasst: genau die Art von grundsympathischem Kiezladen, dem der Record Store Day eigentlich mal helfen sollte. „Eine Weile fand ich die Idee schön“, sagt Jakob Groothoff. Früher habe er am Record Store Day verstärkt Platten von Hamburger Bands, Künstlerinnen und Künstlern angeboten, im Laden fanden kleine Konzerte statt. Aber vor etwa vier, fünf Jahren sei es dann stressig geworden. „Ungefähr seit die Majorlabels ins Geschäft mit den Sondereditionen eingestiegen sind, ist der Record Store Day zum Industriespektakel geworden. Heute steht der Tag eher für Verwertungslogik als für Musik“, sagt Groothoff. „Häufig kommen Kunden, die nur Raritäten einheimsen wollen und den Laden sehr ungeil betreten. Da wird gedrängelt und geschubst, es macht überhaupt keinen Spaß.“ Aus einem Tag, an dem die Vinylkultur wertgeschätzt werden soll, ist für Groothoff fast ein Anti-“Record Store Day“ geworden. Er und die Betreiber anderer Plattenläden in seinem Umfeld, zum Beispiel Zardoz und Groove City, machen deshalb nicht mehr mit. Ziemlich sicher ist, dass ihnen damit Umsatz entgeht.

Julia Lorenz schreibt für tip Berlin, taz, Musikexpress und Spiegel

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