"Es ist ein Sexualverbrechen": So beschreibt die Schauspielerin Jennifer Lawrence, wie es war, als vor einem Monat in ihre Handy-Backups eingebrochen wurde und intime Fotos gegen ihren Willen im Netz verbreitet wurden. "Ich hatte so viel Angst. ... Es ist mein Körper, und es sollte meine Entscheidung sein, und dass sie es nicht ist, ist absolut widerlich. Ich kann nicht glauben, dass wir überhaupt in so einer Welt leben."
Eine ganz andere Interpretation des Falls hatte zuvor der deutsche EU-Kommissar Oettinger zum Besten gegeben: "Wer so blöd ist, und als Promi ein Nacktfoto von sich selbst macht und ins Netz stellt, hat doch nicht von uns zu erwarten, dass wir ihn schützen! Also, vor Dummheit kann man die Menschen auch nicht – oder nur eingeschränkt – b
n schützen! Also, vor Dummheit kann man die Menschen auch nicht – oder nur eingeschränkt – bewahren." Das sagte er just in seiner Bewerbungsrede zum EU-Kommissar für "digitale Wirtschaft und Gesellschaft". Zu dessen Aufgaben gehört übrigens offiziell, für über 500 Millionen Menschen "Maßnahmen zu entwickeln, um Europa online vertrauenswürdiger und sicherer zu machen" und eine "ambitionierte Datenschutzreform" "rasch abzuschließen".Zweierlei MaßDas Zitat ging um die Welt wie vermutlich kein anderes aus den wichtigen, aber leider oft trockenen Anhörungen der angehenden Kommissionsmitglieder im Europaparlament. Doch im Kontrast zur medialen Entrüstung bot sich in den Leserkommentaren der Online-Medien meist ein anderes Bild: Jede Menge Zustimmung zu Oettingers Bemerkung. Endlich ein Politiker, der kein Blatt vor den Mund nimmt! Aber ist es wirklich so?Als ein halbes Jahr zuvor einige E-Mail-Postfächer des europäischen Parlaments gehackt wurden, kam niemand auch nur auf die Idee, die betroffenen Abgeordneten als "dumm" zu bezeichnen, weil sie ihre Kommunikation im Netz abgewickelt und dabei technischen Sicherheitsmaßnahmen vertraut hatten.Das Recht berühmter Frauen, ihre Nacktfotos vor unerlaubtem Zugriff zu schützen, wird also weitaus weniger anerkannt als das von Politikern auf ihre Korrespondenz. E-Mail-Hacker sind Kriminelle; Nacktfoto-Hacker, die die Bilder dann miteinander tauschen, für Bitcoins versteigern und über Foren millionenfach verbreiten hingegen eine nicht weiter thematisierungswürdige Selbstverständlichkeit, die dumme Promis vorhersehen hätten müssen. Ihre Taten sind nicht etwa durch Sicherheitsmaßnahmen, durch rechtliche Mittel oder durch gesellschaftliche Solidarität zu bekämpfen – sondern indem ihre Opfer erst gar nichts Verbreitenswertes herstellen, oder keine breite Bekanntheit erlangen, oder sich lückenlose IT-Sicherheits-Expertise anlernen. Kreditkartendaten müssen sicher sein – digitalisierte weibliche Sexualität soll entweder gar nicht existieren, oder aber allen zugänglich sein. Die vordergründige Frage ist dann auf einmal nicht, warum jemand diese Frauen gezielt angegriffen hat, sondern, welche Rechtfertigung sie haben, solche Bilder überhaupt gemacht zu haben.Keine Entschuldigung von OettingerHinter diesem Unterschied steckt Sexismus – auch wenn er, wie das struktureller Diskriminierung inhärent ist, nicht in jedem Fall bewusst oder boshaft beabsichtigt sein mag. Es ist das Privileg jener, für die selbst betroffen zu sein so weit außerhalb der Vorstellungskraft liegt, dass sie sich nicht einmal in die Situation einfühlen können, über diesen Fall zu scherzen und väterlich gute Ratschläge zu erteilen. Doch es ist ein Beispiel des heimtückischen gesellschaftlichen Musters, das "rape culture" (Vergewaltigungskultur) genannt wird: Wenn Gewalt und Grenzüberschreitungen gegen Frauen als normal und unvermeidbar hingestellt werden und hauptsächlich die Opfer moralisch verurteilt werden.Keine Frage: Oettinger hat insofern recht, als dass Technologie Risiken birgt, derer wir uns alle bewusst sein müssen, und die man nicht mit Wunschdenken bannen kann. Als der britische Fernsehsender BBC nachfragte, stellte der Politiker auch klar: Jeder habe das Recht auf Privatsphäre, und Cloud-Computing müsse sicherer werden. Ob er sich also für seine Bemerkung entschuldigen wolle? "Nein", so seine Sprecherin.Wenn wir Schritte in eine Zukunft machen wollen, in der das Netz ausnahmslos alle Mitglieder unserer Gesellschaft befähigt, statt bloß eine kleine privilegierte digitale Elite, dann brauchen wir Netzpolitikerinnen und -politiker, die nicht in unreflektierten Denkmustern aus vergangenen Zeiten verharren. Oettingers Vorgesetzter Andrus Ansip, der designierte Vizepräsident für den digitalen Binnenmarkt, demonstrierte erfreulicherweise mehr Weitblick, als er sich auf meinen Vorschlag als Europa-Abgeordnete der Piraten hin bereit erklärte, sich in einer Online-Anhörung direkt Fragen aus der Bevölkerung zu stellen – ein absolutes Novum. Ich habe Hoffnung, dass Günther Oettinger, der mittlerweile von den zuständigen Parlamentsausschüssen für seinen neuen Job freigegeben wurde, sich diesem Demokratisierungsschritt anschließt – und dabei die Gelegenheit ergreift, sich für seine saloppe Täter-Opfer-Umkehr bei Jennifer Lawrence und den anderen Betroffenen zu entschuldigen.