Abrakadabra, Hass auf die re:publica!

Internet Drama in der Netzblase: Der Blogger René dreht durch und aus „Nerdcore“ wird Ernst
Ausgabe 21/2019
Zu viel Internet schadet der Gesundheit, der physischen und der psychischen
Zu viel Internet schadet der Gesundheit, der physischen und der psychischen

Foto: Ed Jones/Getty Images

In jeder noch so kleinen Internetblase ist immer genug Zeit für Drama. Früher haben wir gedacht, das Internet mache uns alle frei, dann dachten wir, das Internet lege uns in neue Ketten, jetzt haben wir eingesehen, dass das Internet vor allem zum Kaufen und Verkaufen taugt. Und als Hobby und Unterhaltung. Jeder kann hier alles spielen.

Ich imaginiere mich selbst als erfolgreichen Blogger, der im Flow an den Themen arbeitet, die ihn interessieren, ja, die ihm zufliegen. Wegen meines avantgardistischen Lebensstils bin ich immer schon früher wach als alle anderen, um die amerikanischen Nachrichten zu lesen und sie für die Deutschen zu übersetzen. Ich bin am Puls der Zeit. Permanent.

Ding Dong. Ja hallo, wir haben 2019. René wohnt im Schwulenkiez und ich muss da jetzt mal recherchieren. Die anderen wollen ihn entweder direkt zwangseinweisen oder denken, dass sich das Problem des „Nerdcore“-Bloggers zügig von alleine lösen wird.

Seit Jahren schreibt René im Suff Bullshit ins Internet. Unter anderem hat er der Internetkonferenz re:publica einen Amoklauf angekündigt – mit Toten. Seit einiger Zeit hat er sich auf die Idee fixiert, dass ein Internetkollektiv ihn manipuliere, damit er aufhört zu rauchen, ja, sich einen saubereren Lebenswandel zulegt. Natürlich bin auch ich Teil dieses Kollektivs.

„Rape Culture, Rape Culture“ wimmert René. „Sie haben Nerdcore getötet!“ Vor zehn Jahren schien die Welt noch in Ordnung, damals, als er ein erfolgreicher Kulturblogger war und das „... und alle so Yeah!“-Mem erfand. Doch nun macht René das nach, was ich in den Jahren 2011 bis 2017 aufgeführt habe.

„Hass, Hass, Hass wie noch nie! Die re:publica hat mich ausgegrenzt! Ich bin so alleine, ich habe keine Freunde, das Freundesversprechen des Internets ist falsch! Wir sind gar nicht weltweit nah!“ Wie / eine / Fata Morgana / so nah und doch so weit! Alleine gelassen worden von jenen, die Tag und Nacht für die kalte Liebe des Silicon Valley werben, für Weltverbesserung mithilfe von Internet-PR und BWL.

Die re:publica sprachlich anzünden zu wollen, ist nicht nur ein naheliegender Wunsch, sondern ein erstrebenswertes Ziel. Man kann da schon auch versuchen, noch härter zu trollen, das macht René auch recht erfolgreich, indem er sich eine profilierte Social-Media-Managerin als Stalkingopfer ausgesucht hat. Gleichwohl trifft René hiermit die Falsche. Eben nicht die re:publica-Männer hinter ihr, die er eigentlich adressieren will. Denen allerdings scheint das Leid dieser Frau egal zu sein. Eine Nachfrage bei diesen Männern brachte nichts zutage. Vielleicht fühlen sie sich schuldig. Vermutlich fühlen sie gar nichts.

Und so sitze ich jetzt bei René, den ich zuvor genau einmal im Leben getroffen habe, nämlich auf LSD, und versuche ihm nahezubringen, dass es mit dem gerechten Lohn für die getane Arbeit etwas komplizierter ist als vermutet. Und dass wir, die er sich als neue Freunde ausgesucht hat, ihm keinesfalls eine Kur bezahlen werden oder eine Zahn-OP. Für so was ist in Deutschland nämlich der Sozialstaat da.

Inzwischen ist ein Buch über Nerdcore erschienen. Tag X – ein gut gemachter Fake von Emily Williams (Marta Press 2019). Das Blogger-Elend orchestriert die Protagonistin, die wirklich was macht – nämlich sich vor der Bundestagswahl 2017 in AfD-Gruppen einschleichen und sie übernehmen. Nach einer wahren Geschichte.

Der Autorin sollte sofort das Bundesverdienstkreuz verliehen werden. Nerdcore braucht eine Kur oder einen Sozialarbeiter. Und die re:publica-Männer gehören in eine Tigergrube. Da können sie dann Selfies schießen.

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Geschrieben von

Julia Seeliger

schreibt alle vier wochen das "medientagebuch"

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