Ein aktueller ägyptischer Fernsehspot endet mit den Worten: „Ägypten wird kein Land der sexuellen Belästigung. Es ist das Land derer, die ihr Blut für die Freiheit vergossen haben. Das Land von Mina Daniel, Ahmed Harrara ...“ Sieben Männer zählt der bekannte Schauspieler Khaled El Nabawy auf. Dass bei den Vorkämpfern der ägyptischen Revolution nur Männer genannt werden, empfinden viele Frauen aber als gedankenlos.
Die Musikerin Jasmin El Baramawy spricht mit Empörung in der Stimme davon, auch wenn sie äußerlich gelassen auf einem alten Sofa in ihrer Wohnung im Zentrum Kairos sitzt: „Es geht um Frauen und sexuelle Belästigung – und dann ist es Ahmed Harraras Revolution! Es gibt genauso verwundete Frauen, Frauen, die getötet wurden. Und diese Frauen haben Namen.“ El Baramawy hatte die Kampagne anfangs mitentwickelt. Die 30-Jährige kennt auch Ahmed Harrara, der bei der Revolution beide Augen verloren hat. Er sei ein guter Freund. Sie will sein Opfer nicht schmälern, sie will aber, dass Frauen mit ihren Anliegen wahrgenommen werden.
Im Tränengas
El Baramawy ist in der zweiten Stufe der ägyptischen Revolution zu einer Vorkämpferin für Frauenrechte geworden. Dadurch, dass sie ihre Geschichte erzählt. Am 23. November 2012 nahm sie an den Protesten gegen Präsident Mohammed Mursi teil, nachdem dieser sich per Verfassungsdekret weitreichende Machtbefugnisse eingeräumt hatte. Das mobilisierte Proteste verschiedenster Kräfte: Liberale, Linke, Vertreter des alten Regimes, sogar die „Sofa-Partei“– diejenigen, die sonst Fernsehen und Sofa bevorzugen, zog es auf die Straße. Es kam zu Zusammenstößen, El Baramawy mittendrin. Und genau wie etliche andere Frauen wurde sie an diesem Tag Opfer sexueller Gewalt. Sie wurde vergewaltigt. Den Angriff hatte sie nicht kommen sehen: „Es passierte ja im Tränengas und inmitten von Gummigeschossen. Ich hatte eine Gasbombe unter meinem Bein. Das Gas ist nur so aus mir rausgeströmt – und sie griffen mich an.“ Ihr sei klar gewesen, dass sie bei der Demo verletzt, verhaftet, sogar getötet hätte werden können. „Aber dass es das Risiko gibt, vergewaltigt zu werden, dessen war ich mir nicht bewusst.“
Betroffene Frauen und Menschenrechtsorganisationen sind sich einig, dass die Gewalt großer Männergruppen gegen Frauen an Orten des Protests politisch motiviert ist und revolutionären Gruppen schaden soll. Die hohe Anzahl von Vorfällen mit gleichem Ablauf spricht dafür: Eine Frau wird isoliert, umkreist, angegriffen, auch mit Messern. Zugleich wird nach außen behauptet, man würde sie abschirmen, um sie zu schützen. „Es ging darum, mich so schwer wie möglich zu verletzen und zu beleidigen – zur Abschreckung“, erzählt ElBaramawy und bleibt dabei sehr ruhig. Sie macht sich sogar über ihre Angreifer lustig, armselig seien die.
Noch eine Demütigung
Zwei Monate lang versuchte sie, das Thema an die Öffentlichkeit zu bringen, ohne ihre eigene Geschichte zu erzählen. Sie sprach etwa 100 Leute an, forderte Politiker, Journalisten, Aktivisten – die meisten aus ihrem Freundes- und Bekanntenkreis – auf, über die sexuelle Gewalt zu sprechen. Vergeblich. „Sie befürchteten, es würde dem Ruf des Tahrir-Platzes schaden. Und sie sagten: Sei froh, dass du lebst.“ Es war eine weitere Demütigung. Diesmal fühlte sie sich von der Revolution selbst betrogen. „Warum revoltieren wir eigentlich? 2011 haben wir Würde, Freiheit, Brot und soziale Gerechtigkeit gefordert. Und jetzt wollt ihr, dass ich so tue, als sei nichts passiert? Das wäre das Ende der Revolution.“ Sie kämpfte mit ihren Gefühlen und der Erinnerung an die Tat. Es gab Tage, an denen wünschte sie sich, sie wäre gestorben. Sie dachte auch an Selbstmord.
Die Wende kam für sie mit dem 25. Januar 2013, dem zweiten Jahrestag der Revolution. Sie verfolgte mit der NGO-Operation gegen sexuelle Belästigung, was auf dem Tahrir-Platz passierte: Etwa 20 Fälle massiver sexueller Gewalt wurden an diesem Tag registriert. „Es war, als ob ich selbst erneut angegriffen würde. Ich fühlte mich schuldig, weil ich geschwiegen hatte – so wie die Frauen vor mir.“ Mit diesem Gefühl konnte sie nicht länger leben, denn „jede Frau hat das Recht zu erfahren, was passieren kann, damit sie Vorsorge treffen kann, vielleicht etwas anzieht, das nicht so schnell runterzureißen ist, nicht allein geht, ein Elektroschockgerät mitnimmt“, sagt El Baramawy. Sie entschied sich, ihre Geschichte öffentlich zu erzählen, ausführlich, in einer Fernseh-Talkshow. Ihr Vater drohte, sie zu enterben – sie dürfe ihre Identität nicht preisgeben, den Familiennamen nicht erwähnen. Doch sie ließ sich nicht beirren, und entgegen allen Erwartungen waren die Reaktionen auf die Sendung überwiegend positiv.
Der Aufritt veränderte ihr Leben, er machte sie zu einer politischen Ikone. Die positive Resonanz stimmte sogar den Vater um. Und El Baramawy gab sie die innere Ruhe zurück. Meistens jedenfalls. Sie geht auch weiterhin auf Demonstrationen und zehrt, wie viele Aktivisten, bis heute von der Erfahrung des solidarischen Miteinanders auf dem Tahrir-Platz Anfang 2011.
Kaum Frauen in der Politik
Damals, nach Mubaraks Rücktritt, schien das mächtige Militär bedrohlicher als die islamistischen Kräfte. So sahen es auch NGOs: Gegen religiös fundamentalistische Diskurse sah man sich gewappnet – Ägypter seien zwar konservativ, das aber freiwillig. Zwingen ließe sich hier keiner. Heute, zwei Jahre später, stellt sich die Situation anders dar: Das in seiner ökonomischen und politischen Macht unangetastete Militär hat sich aus der Regierung zurückgezogen. Die ultrakonservativen religiösen Kräfte üben Druck aus, testen, wie weit sie gehen können – an den Universitäten, im Protest gegen die Justiz, mit Klagen gegen Journalisten. Der Frauenanteil in politischen Gremien ist eklatant gesunken, die Verfassung zeichnet ein traditionelles Frauenbild.
Eine Debatte im Menschenrechtsausschuss des ägyptischen Oberhauses zur sexuellen Gewalt legte die Ansichten einiger Abgeordneter offen, die vergewaltigten Frauen selbst die Verantwortung zuschrieben oder die Einrichtung eigener Frauenzonen auf Demonstrationen vorschlugen. Die feministische NGO Nazra veröffentlichte vor drei Monaten ein Positionspapier: Darin stellte sie eine Verbindung her zwischen den Gewaltakten während der Demos und dem sozialen Klima alltäglicher sexueller Belästigung im öffentlichen Raum. Von den staatlichen Institutionen verlangt Nazra die Auflärung der Verbrechen. Es passiert aber praktisch nichts. Was bleibt, sind Spekulationen – etwa wenn gleich acht Frauen aus dem Freundeskreis von El Baramawy zu den Betroffenen gehören, politisch aktive Frauen allesamt. An einen Zufall glaubt keine von ihnen.
Klima der Angst
In den vergangenen Monaten wurden keine vergleichbaren Fälle mehr bekannt. Aber es gibt auch Frauen, die nicht mehr an Protesten teilnehmen – aus Angst vor einer Vergewaltigung. So bitter es ist, teilweise ist es den Tätern schon gelungen, ein Klima der Angst für Frauen zu schaffen. Noch aber besteht ein Nebeneinander von Repression und Revolution. Es gibt neue Gruppen, die auf Veränderung drängen. Und einige Medien widmen sich ernsthaft dem Thema. Ein Fernsehsender zeigte etwa ein Experiment, für das sich ein junger Mann, mal mit, mal ohne Kopftuch, als Frau verkleidet auf die Straße begab und alle Anmachen dokumentierte. „Wir sind keine Opfer, wir sind Revolutionärinnen“, skandieren einige angegriffene Frauen öffentlich. Sie wollen zeigen, dass sie sich nicht einschüchtern lassen. Zugleich wehren sie sich gegen Mitleid aus westlich-feministischer Perspektive, die Frauen aus arabischen Ländern oft als per se unterdrückt wahrnimmt.
El Baramawy sagt, sie sei heute den Leuten dankbar, die sie ignorierten, als sie eine Debatte über sexuelle Gewalt anstoßen wollte: Diese Leute hätten sie gezwungen, für sich selbst einzustehen. „Wir müssen das, was wir fordern, selbst umsetzen. Immerhin würden wir für unsere Ziele sterben – da können wir nicht einfach zu Hause wieder alten Mustern folgen. Es geht auch um eine private Revolution. Und diese ist letztlich viel stärker. Sie geht von unten nach oben."
Julia Tieke reist als freie Journalistin regelmäßig nach Kairo. Audio-Ausschnitte der Interviews kann man auf ihrem Blog nachhören: cairobymicrophone.wordpress.com
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