Mit Dolch und Turban

Porträt Jagmeet Singh wird in Kanada bald eine entscheidende Rolle spielen, wenn er Premier Trudeau zur Seite steht
Ausgabe 47/2019
Kritik an seinem Verhältnis zu extremistischen Sikhs rückt Singh geschickt in die Nähe des Rassismus
Kritik an seinem Verhältnis zu extremistischen Sikhs rückt Singh geschickt in die Nähe des Rassismus

Foto: Richard Lautens/ZUMA Press/Imago Images

Es war ausgerechnet ein rassistisch anmutender Vorfall, der Jagmeet Singh kanadaweit bekannt machte. Vor gut zwei Jahren befand er sich im Wahlkampf um den Vorsitz der Neuen Demokratischen Partei (NDP). Singh, gelernter Strafverteidiger und seinerzeit Abgeordneter der sozialdemokratischen NDP in der Provinz Ontario, war als Politiker bis dahin nicht groß in Erscheinung getreten. Das änderte sich schlagartig am 6. September 2017. Auf einer Veranstaltung stürmte eine sichtbar aufgebrachte Frau auf ihn zu. Sie warf ihm lautstark vor, die Scharia einführen zu wollen. Singh, offensichtlich kein Moslem, sondern Anhänger der Sikh-Religion, reagierte cool. „Wir heißen dich willkommen“, rief er der Frau entwaffnend zu.

Ein Video des Vorfalls löste innerhalb kürzester Zeit landesweit eine Debatte über Rassismus aus. Singhs ungewöhnliche Reaktion wurde gefeiert, er gewann die Wahl zum NDP-Chef und avancierte schnell zu einer Art Posterboy des kanadischen Multikulturalismus. Alle wichtigen Medien des Landes widmeten dem „politischen Superstar“ (Toronto Life) große Porträts. Der Sohn indischer Einwanderer hat es damit nicht nur als erster Angehöriger einer Minderheit in Kanada hinauf ins politische Establishment geschafft. Er hat es verstanden, seinen Minoritäten-Status in politisches Kapital umzuwandeln. Waren die von Singh getragenen Erkennungszeichen – orthodoxer Sikh-Turban, Rauschebart und traditioneller Dolch – vor Jahren in Kanada noch ein Wahlhindernis, lässt sich damit heute durchaus Politik machen. Singhs Erfolg resultiert aus dem Willen, sich den wachsenden und immer mehr sichtbaren Minderheiten als ein authentischer Fürsprecher anzubieten.

Als NDP-Vorsitzender könnte er nun vom 5. Dezember an, wenn das neu gewählte Parlament erstmals zusammentritt, einen wichtigen Part übernehmen. Premier Justin Trudeau und seine Liberale Partei haben die absolute Mehrheit im Abgeordnetenhaus verpasst. Die von Trudeau nun angestrebte Minderheitsregierung wird auf Kooperation mit kleineren Parteien angewiesen sein. Singh könnte Trudeau von links unter Druck setzen, um so Wahlversprechen folgen zu können, darunter eine staatliche Kostenerstattung für Medikamente und verbesserte Lebensbedingungen für die indigene Bevölkerung Kanadas. Ob Singh das wirklich gelingt, ist allerdings unklar. Sein progressives Image hat seit seinem Amtsantritt als Parteivorsitzender gelitten. Kritiker werfen ihm vor, er wolle die kanadische Politik „ethnisieren“. Die Wahl zum Parteivorstand habe er unter anderem der Tatsache zu verdanken, dass es ihm gelang, innerhalb der Sikh-Gemeinde rund 10.000 neue NDP-Mitglieder zu werben. Und wegen ethnischer Bande dürften sie größtenteils für Singh gestimmt haben.

Die Kolumnistin Margaret Wente ließ sich nicht beirren, ihm in Kanadas größter Tageszeitung The Globe and Mail zu attestieren, er stecke „bis zum Hals in den ethno-nationalistischen Konflikten“ des Heimatlandes seiner Eltern. Gemeint ist die Unabhängigkeitsbewegung im indischen Punjab, die in Kanadas Sikh-Gemeinde traditionell Anhänger hat. Vorrangig in den 1980er Jahren kämpften radikale Sikhs dafür, eine von Indien unabhängige Theokratie namens Khalistan zu errichten. Auf das Konto extremistischer Sikhs gingen im Namen dieser Vision zahlreiche Terroranschläge. Sie verantworten nicht zuletzt das Attentat auf den Air-India-Flug 182 von Montreal nach London im Jahr 1985, der 329 Menschenleben kostete – die meisten kanadische Staatsbürger. Als Singh in einem Interview mit dem Fernsehsender CBC nach seiner Wahl zum Parteivorsitzenden auf das Attentat angesprochen wurde, reagierte er ausweichend. Trotz etlicher Nachfragen blieb er bei der Aussage, nicht zu wissen, wer das Verbrechen verübt habe. Er sei jedoch allgemein gegen Gewalt. Seinen Beliebtheitswerten verpasste der verstörende Auftritt einen ersten Dämpfer. Monate später geriet Singh erneut in die Kritik, als bekannt wurde, dass er 2015 in San Francisco als Redner auf einer Demonstration zu Ehren des militanten Khalistan-Märtyrers Jarnail Bhindranwale aufgetreten war. Bhindranwale und sein Umfeld sollen für zahlreiche terroristische Morde in der Zeit des Air-India-Attentats zuständig sein.

Im kanadischen Wahlkampf im September und Oktober schien das freilich kaum mehr von Belang. Neben Singhs wiederholter Distanzierung von Gewalt dürfte ihm dabei geholfen haben, dass er Kritik an seinem zweifelhaften Verhältnis zur extremistischen Khalistan-Bewegung geschickt in die Nähe des Rassismus rückte. Die kritischen Fragen an ihn hätten einen „klar problematischen Hintergrund“, ließ er wissen, unterstützt unter anderem von einigen Journalisten und dem einstigen Geschäftsführer der Welt-Sikh-Organisation, der die Fragen von CBC „bigott“ und „rassistisch“ nannte.

Auch die anderen Parteien hielten im Wahlkampf still. Denn mit der fast 500.000 Menschen umfassenden, vor allem in Ontario lebenden Sikh-Gemeinde will es sich aus Angst vor dem Verlust von Wählerstimmen kaum jemand verscherzen. Am wenigsten dürfte das Thema die anstehende Zusammenarbeit mit Justin Trudeau belasten. Denn der Premier geriet auf einer Indienreise im zurückliegenden Jahr selbst in die Kritik. Zu einem Empfang hatte seine Delegation den prominenten und in Kanada ansässigen Khalistan-Aktivisten Jaspal Atwal eingeladen. Diesem werden mehrere Anschläge zur Last gelegt, darunter nicht zuletzt ein Mordversuch an einem indischen Politiker im Jahr 1986.

Julian Bernstein arbeitet als Korrespondent in Kanada. Er lebt in Montreal Kritik an seinem Verhältnis zu extremistischen Sikhs rückt Singh geschickt in die Nähe des Rassismus

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