Seinen späten Spitznamen wohnte immer auch eine gewisse Ehrfurcht inne – auch wenn sie teilweise despektierlich gemeint waren: Vom „Schwarzen Riesen“ war die Rede, schließlich auch vom „Kampfelefant“, der sich 1998 noch einmal aufraffen sollte, um den Machtverlust für die Union zu verhindern. Dass er scheiterte, änderte nichts mehr an der Tatsache, dass Helmut Kohls Gegner zum Ende seiner Kanzlerschaft ihren größten Fehler nicht mehr wiederholten: ihn zu unterschätzen.
Und er war unterschätzt worden. Noch als er 1982 durch den Seitenwechsel der FDP zum Kanzler gewählt wurde, regnete es Spott. Die geschockten Sozialdemokraten sprachen von einem „eitlen, linkischen Provinzpolitiker“. Der junge Gerhard Schröder nannte Kohl einen „Gimpel“, der Stern beschrieb ihn als „zwei Zentner nichts“ und sogar die konservative FAZ attestierte ihm einen „Mangel an Intellekt, Mangel an Zukunftsphantasie, Mangel an Flair und Mangel an persönlichem Stil“. Kohl, soviel scheint damals klar, sei ein Übergangskanzler, der den Kanzlerbungalow mit samt seiner Strickjacke bald wieder verlassen wird.
Beeindruckendes Comeback
Es kommt anders. Skandalen und verpassten Chancen zum Trotz: Kohl wird eine der prägensten Figuren der jüngeren deutschen Geschichte, regiert länger als sein Vorbild Konrad Adenauer, fast so lange wie Bismarck. In seiner Amtszeit werden aus zwei deutschen Staaten ein Deutschland, der Euro wird beschlossen, die Schlagbäume in Europa werden abgebaut. Grund genug für die ehemaligen Spiegel-RedakteureHans-Joachim Noack und Wolfram Bickerich, sich mit einer neuen Biografie dem Phänomen Helmut Kohl zu nähern.
Die Anlässe für eine solches Buch häufen sich in diesem Jahr: Im April steht Kohls 80. Geburtstag an. 20 Jahre nach der Wiedervereinigung und zehn Jahre nach dem Ende der Spendenaffäre gibt es damit genug Gründe für eine Rückschau. Schließlich macht elf Jahre nach der Rückkehr von Schwarz-Gelb auf die Regierungsbank schon wieder das Wort der „Bimbes-Republik“ die Runde. Die CDU selbst hadert derweil noch damit, wie sie mit dem Andenken an ihren langjährigen Vorsitzenden umgehen soll, während das Ansehen des Politikrentners in Teilen der Öffentlichkeit schon wieder beeindruckende Höhen erreicht: Im vergangenen Jahr gaben bei einer repräsentativen Umfrage über 40 Prozent der Befragten an, Kohl sei die wichtigste Persönlichkeit der deutschen Nachkriegszeit – ein klarer erster Platz.
Noack und Bickerich stimmen in diesen Verklärung nicht ein. In ihrer Biografie zeichnen sie ein zwiespältiges Bild des Kanzlers. Kohl habe, neben seinen unbestrittenen Verdiensten um die europäische Einigung, keine Vision für das Land gehabt, dass er 16 Jahre lang regierte. Die vollmündig angekündigte „geistig-moralische Wende“ sei nicht mehr gewesen als eine Worthülse. Weder die von den Konservativen jahrelang bekämpfte Ostpolitik der sozialliberalen Koalition wurde angetastet, noch die gesellschaftlichen Reformen aus der Zeit der SPD-Regierung. Kohl verkörperte mit Filzpantoffeln, Strickjacke und Aquarium im Büro zwar den deutschen Biedermeier fast schon wie eine Karikatur, politisch drehte er die Zeit aber nicht zurück. Was man ihm hingegen vorwerfen könne, sei, dass er die Bundesrepublik auch nicht vorwärtsgebracht habe. Nicht einmal für die deutsche Einheit, so das implizite Urteil der Autoren, nutzte Kohl seine Macht, um das Land innenpolitisch zu reformieren.
Bimbes zur Landschaftspflege
Beim Einigungsprozess weisen sie dem Kanzler in der Tat signifikante Fehler nach – insbesondere handwerkliche: Bei der Zusammenlegung der Sozialsysteme habe die Regierung geschlampt. Anstatt beispielsweise die Renten der neuen Mitbürger durch Steuern zu finanzieren, die ja alle bezahlen, werden sie der westdeutschen Rentenkasse aufgebürdet, in die Selbstständige und Beamte nichts einzahlen. Zusätzlich kritisieren Noack und Bickerich, dass Kohl nicht den Mut hatte, die Deutschen auf die hohen Kosten der Einheit vorzubereiten. Die Opferbereitschaft, die die Autoren dem Volk im Jahr 1990 attestieren, wollte der Kanzler nicht abrufen. Als Konsequenz schlingerte die Regierung durch die nächsten Jahre, erhöhte aus den unterschiedlichsten Gründen die Abgaben und verrannte sich in Schattenhaushalte, nur um nicht eingestehen zu müssen, dass die Einheit eben nicht aus der „Portokasse“ bezahlt werden konnte. Auch Kohls politisch motivierte Entscheidung im Rahmen der Währungsunion die Ostmark 1:1 in Westmark umzutauschen, stößt auf Kritik. Kohls angebliches Glanzstück, so legen die Autoren nahe, ist mit einigen Schrammen versehen.
Noack und Bickerich fassen auf knapp 300 Seiten das Leben des Altkanzlers zusammen. Das Buch gleicht damit eher einem knappen Überblick als einer wirklichen Tiefenanalyse. Zum Vergleich: Kohls Autobiografie umfasst drei Bände und 2500 Seiten. Wirklich Neues enthüllen die ehemaligen Spiegel-Redakteure in ihrem Band dann auch nicht. Trotzdem ist die Biografie lesenswert. Noack und Bickerich lassen nichts wichtiges aus – und schaffen es, trotz der Kürze, die Widersprüche der Figur Kohl herauszuarbeiten.
So zum Beispiel auch, wenn sie sich dem Tiefpunkt seiner Karriere widmen: Der Spendenaffäre: Der Kanzler nimmt Geld, genannt „Bimbes“, aus dubiosen Quellen an, doch nicht etwa um sich zu bereichern, sondern um seine Günstlinge bei Laune zu halten. Zuschüsse gibt es für Loyalität, wer nicht spurt, geht leer aus. Verglichen mit seinem „Männerfreund“ Franz Josef Strauß, bei dem der gerichtlich attestierte „Ruch der Korruption“ später in klare Vorteilsnahme mündete, diente Kohls Form der politischen Landschaftspflege einem anderen Zweck: Er sicherte damit seine Macht ab.
Das zeigt, wie besessen Kohl von ihr war. Er strebte sie fast sein ganzes Leben lang an – trotz zahlreicher Rückschläge. Und ist mit diesem Ziel in die Geschichte eingegangen, wie auch immer man seine Regierungsjahre bewerten will. Der unwürdigen Spendenaffäre stehen die Einführung des Euro, die Wiedervereinigung und das Schengen-Abkommen entgegen. So werden Deutschland und Europa noch lange Helmut Kohls Handschrift tragen.
Helmut Kohl. Die Biographie Hans-Joachim Noack und Wolfram Bickerich, Rowohlt Berlin, Berlin 2010, 299 S. , 19,90
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