Draußen brennt noch die Nachmittagssonne, aber in der Hotellobby ist es eisig kalt. Die Klimaanlage läuft auf voller Leistung, einige der Gäste ziehen ihre Mäntel enger um die Körper. Es sind vielleicht 50 in schwarz gekleidete Männer und Frauen, die hier auf den Sonnenuntergang warten. An jedem anderen Tag wäre es ein leichtes, das Thermostat herunterzudrehen, doch heute ist es nicht so einfach. Erst müssen die jüdischen Hotelangestellten einen arabischen Arbeitskollegen finden. Selbst Hand an das kleine weiße Rädchen zu legen, ist undenkbar.
Es ist Shavout, das jüdische Offenbarungsfest, an dem die Gläubigen die Übergabe der zehn Gebote an Moses auf dem Berg Sinai feiern. Für Juden gelten heute die gleichen Regeln wie am Sabbat: kein Feuer machen, keine Knöpfe drücken, kein Auto starten. Deshalb warten die Gäste auch überhaupt nur: Erst wenn in wenigen Stunden die Nacht hereinbricht, dürfen sie nach Hause fahren.
Die Lobby gehört nicht zu einem normalen Hotel. Der dreistöckige Betonbau steht in Lavi, einem Kibbuz im Norden Israels. Der Kibbuz ist einer der wenigen religiösen Kibbuzim in Israel. Wer hier leben will, muss sich an mehr als 600 Regeln halten. An Feiertagen hält der Aufzug in jeder Etage, damit die Gäste keinen Knopf drücken müssen. Im Restaurant sind Fleisch- und Milchprodukte streng abgetrennt. Das macht das Hotel zu einem beliebten Ausflugsziel, insbesondere für die orthodoxen Juden in Israel.
Schweine bitte nur auf Beton
Etwa eine Autostunde von Lavi entfernt zieht derweil ein Kassierer ohne mit der Wimper zu zucken Barcodes über das elektronische Lesegerät. Der Supermarkt im Kibbuz Misra ist auch heute geöffnet – Feiertag hin oder her. Mit Religion hat man hier nicht viel am Hut. Sogar Schweinefleisch kann man kaufen. Im angeschlossenen „Schweineforschungszentrum“ züchten die Kibbuzniks die Tiere selbst und verkaufen das Fleisch im eigenen Geschäft und dem angeschlossenen Restaurant.
Dabei ist Schweinezucht in Israel auf staatlichem Land verboten. Und wie alle anderen Kibbuzim auch, gehört das Land von Misra dem Staat. Der Kibbuz pachtet es lediglich. Um dennoch weiter Schweine züchten zu können, griffen die Kibbuzniks zu einem Trick. Sie schütteten unter dem „Schweineforschungszentrum“ eine dünne Betonschicht auf und trennten so die Schweine vom Staatsboden. Eine erstaunliche Lösung, aber rechtlich einwandfrei.
So unterschiedlich die Kibbuzim von Lavi und Misra sind, sie stehen für eine gemeinschaftliche Form zu leben und zu arbeiten, für die sich in Israel inzwischen nur noch drei Prozent der Bevölkerung entscheiden. Und dennoch: Wer mehr über das Selbstverständnis Israels, seinen gesellschaftlichen Geist und das Fortwirken der Vergangenheit in der Politik lernen will, findet dafür kaum bessere Orte als Kibbuzim – egal ob religiös oder säkular.
Der eigenen Händen Arbeit
Der Kibbuz ist mit der Geschichte des Staates Israels mindestens ebenso eng verknüpft wie die Revolution mit der französischen Republik. Für die zionistische Bewegung war er von Anfang an von entscheidender Bedeutung als Keimzelle für den späteren Staat Israel. Noch zu Zeiten des Osmanischen Reichs kauften jüdische Organisationen Land in Palästina und siedelten Einwanderer an. In den Kibbuzim konnten die neu angekommenen Juden zu Gemeinschaften zusammengefasst werden und das Land nutzbar machen. So entstanden die ersten Gebiete mit jüdischen Bevölkerungsmehrheiten, die 1947 durch den UNO-Teilungsbeschluss zum ursprünglichen Staatsgebiet Israels erklärt wurden. Vor allem aber entstand in dieser Zeit das Selbstbewusstsein, eine zuvor scheinbar unbewohnte Wüste durch die Arbeit der eigenen Hände fruchtbar gemacht zu haben.
„Als ich hierher kam, gab es noch nichts, nur Steine und Ödnis“, sagt Josef Winter aus Lavi. Der Sohn deutscher Juden ist nur wenige Jahre nach der Gründung des jüdischen Staates aus dem englischen Exil nach Israel ausgewandert. Er war einer der ersten, die den Kibbuz mit aufgebaut haben. Heute säumen grüne Felder die Hügel um die Wohnsiedlung. Im Zentrum steht das Hotel. Etwa 270 Mitglieder hat der Kibbuz noch, dazu kommen etwa 150 Freiwillige, die in der Landwirtschaft oder in der Holzwerkstatt arbeiten. Lavi ist heute einer der weltweit größten Produzent von Holzmöbeln für Synagogen.
Der Kibbuz liegt im Norden Israels, etwa auf halber Strecke zwischen Nazareth und dem See Genezareth. Nach dem Unabhängigkeitskrieg siedelte die Regierung Ende der Vierzigerjahre viele Kibbuzim in dieser Region an. Sie sollten die Grenzen zu Syrien stabilisieren. Einige der damals gegründeten Kibbuzim gibt es heute nicht mehr, doch Lavi geht es gut. Hier leben die Menschen nicht nur nach religiösen Regeln, sondern auch nach den Grundsätzen, die die eigentlich säkulare, erste zionistische Einwanderergeneration aufgestellt hat: Jeder arbeitet nach seinen Fähigkeiten für die Gemeinschaft und wird dafür von der Gemeinschaft nach seinen Bedürfnissen versorgt.
Ursprüngliche Ideale erodieren
Doch diese Ideale erodieren: Lediglich 270 Kibbuzim gibt es noch in Israel – und in den meisten wurden die ursprünglichen Regeln über Bord geworfen. Schon die zweite Generation der Kibbuzniks wollte nicht mehr nur in der Landwirtschaft arbeiten. Sie ging studieren, suchte sich Jobs in den Städten. Zwar blieben einige in den Kibbuzim wohnen, aber den kompletten Gehaltsscheck an die Gemeinschaft abliefern, das wollten viele dann doch nicht.
„Da machte sich ein Gefühl der Ungerechtigkeit breit“, sagt Ralph Levinson, Kibbuznik aus dem Süden Israels. In den 70ern kam er aus Namibia und arbeitete ein paar Monate als Freiwilliger in einem Kibbuz. Ein Freund habe ihn damals dazu überredet. Mit zionistischer Ideologie hatte er dabei nichts am Hut. „Er sagte mir, hier gibt es jeden Abend Party“, so Levinson. Ein paar Jahre später wanderte er nach Israel aus. Heute arbeitet Levinson als Fremdenführer. Von seinem Gehalt behält er jedoch den Großteil für sich selbst. „Irgendwann haben sich die Jungen durchgesetzt“, so Levinson.
In den Kibbuzim setzte eine Privatisierungswelle ein. Die Speisesäle traf es zuerst. Anstatt das Essen zugeteilt zu bekommen, wollten die Kibbuzniks selbst entscheiden was sie essen konnten. Immer mehr aßen außerhalb, was die Kibbuz-Küche unter Konkurrenzdruck setzte. Auf einmal musste sie wirtschaftlich arbeiten. Bald darauf wiederholte sich das Prinzip in fast allen Lebensbereichen: Kleiderkammern, Kinderbetreuung, Möbelwerkstätten – alles kam auf den Prüfstand. Spätestens seit der dritten Generation ist der Sozialismus in den allermeisten Kibbuzim passé.
Der Wirkmacht all dessen, was sich mit dem Kibbuz-Mythos verbindet, tut das keinen Abbruch: Noch heute kommen Freiwillige aus der ganzen Welt, die in den Kibbuzim arbeiten wollen, um die israelische Gesellschaft besser kennenzulernen. Auch Deutschlands heutiger Entwicklungsminister, Dirk Niebel, arbeitete dereinst in einem Kibbuz. Trotzdem hat der Einfluss der Kibbuzim auf die israelische Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten deutlich abgenommen. Vorbei die Zeit, als die israelische Elite aus der Kibbuz-Bewegung kam. Staatsgründer David Ben Gurion, der ehemalige Ministerpräsident Levi Eshkol, Ex-Verteidigungsminister Moshe Dayan, aber auch der heutige Staatspräsident Shimon Peres lebten zumindest zeitweise in Kibbuzim. Noch im Sechs-Tage-Krieg hielt sich hartnäckig der Glaube, dass die Kibbuzniks die besten Soldaten des Landes seien.
Das Ich im Zentrum
Doch in den folgenden Jahren entfernte sich die israelische Gesellschaft immer weiter von ihren Wurzeln. Als schließlich 1977 die sozialdemokratische Arbeitspartei abgewählt und mit Menachem Begin der erste Likud-Ministerpräsident die Macht übernahm, kamen die Kibbuzim politisch unter Druck. Der neue Regierungschef sprach von „reichen und verwöhnten Landlords“ und kürzte den Kollektiven die staatlichen Subventionen. Der Druck von außen wirkte auf die Privatisierung der Kibbuzim wie ein Brandbeschleuniger. Seitdem müssen sich die Bewohner nach neuen Einnahmequellen umsehen – Hotels etwa oder Schweine. Doch der wirtschaftliche Erfolg von einigen täuscht nicht darüber hinweg, dass die Gesellschaft individualistischer wurde – für die Kibbuzim eine Bedrohung.
„Früher stand die Gemeinschaft im Mittelpunkt, heute ist das Ich im Zentrum“, sagt Josef Winter. Lavi ist einer der wenigen Kibbuzim, die dem Privatisierungstrend widerstanden. „Ich arbeite auch außerhalb des Kibbuz“, so der 86-Jährige, doch seinen Lohnscheck habe er noch nie gesehen. Die Gehälter aller Mitglieder werden in die Kibbuzkasse eingezahlt. Jeder bekommt ein Budget, das sich nach seinen Bedürfnissen richtet. Wie hoch das Budget ausfällt, darüber entscheiden die Kibbuzniks basisdemokratisch. Alle paar Wochen gibt es eine Vollversammlung. Hier stimmen die Mitglieder alle Entscheidungen ab.
Auch heute verwalten sich die Gemeinschaften selbst – ein Grund dafür, dass sich die Kibbuzim so unterschiedlich entwickeln. Prinzipiell, so Josef Winter, stehe es jedem offen, sich um eine Mitgliedschaft zu bewerben, „doch wer kein religiöser Jude ist, der fühlt sich hier nicht wohl“, sagt er. Schließlich wird die Einhaltung der Speisevorschriften bis ins Detail erwartet: „Ich kann keinen Milchkaffee nach dem Abendessen trinken – Sie können das.“
Julian Heißler ist freier Journalist und kürzlich einige Wochen durch Israel gereist
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