Eine Stadt will nach oben

Megacity Der Aufstieg von Chongqing in Westchina sorgt auch außerhalb der Volksrepublik für Aufsehen. Doch die Metropole entwickelt sich vor allem auf Kosten der Bürger

Die Sonne ist schon seit Stunden untergegangen, doch auf dem großen Platz vor der Halle des Volkes herrscht immer noch Betrieb. Hunderte sammeln sich vor den Springbrunnen ordentlich in Reih und Glied. Plötzlich drückt jemand den Play-Knopf am Ghettoblaster, chinesische Popmusik ertönt. Die Männer und Frauen beginnen zu tanzen.

„Früher hat es das hier nicht gegeben“, sagt ein Einheimischer. Früher habe es gar keine Plätze gegeben, auf denen die Menschen sich zum Tanzen treffen konnten. Nun aber werde die Stadt komplett umgebaut. Chongqing, die Metropole im Westen Chinas, habe sich sehr verändert. Gemeint ist nicht nur das Stadtbild.

„Chicago am Jangtse“ wurde Chongqing schon genannt wegen der vielen Wolkenkratzer, die die Skyline auf der Halbinsel zwischen Jangtse und Jialing-Fluss heute prägen. Der Vergleich hinkt. Während die amerikanische Großstadt über Jahrzehnte in die Höhe wuchs, schießen hier die Hochhäuser erst seit gut zehn Jahren aus dem Boden. 1997 wurde Chongqing zur eigenständigen Gemeinde erklärt und ist seither nur noch der Regierung in Peking unterstellt. Die regionale Ökonomie wächst schneller als irgendwo sonst in China, Unternehmen wie Ford eröffnen Dependancen, die Bevölkerungszahl explodiert, in der Metropole und deren Umland leben etwa 32 Millionen Menschen auf einer Fläche in den Grenzen Österreichs – Chong­qing gilt als größte Kommune weltweit. „Eine der wichtigsten Säulen des Erfolges ist das Zusammenspiel zwischen staatlichem Eigentum und freiem Unternehmertum“, sagt Cui Zhiyuan. Er gilt als geistiger Vater des so genannten Chongqing-Modells. Eigentlich ist er Professor an der Beijinger Tsinghua-Universität, doch derzeit von der Stadtverwaltung dieser Megacity in Anspruch genommen.

Entscheidend für den wirtschaftlichen Aufstieg sei ein hoher Anteil an öffentlichem Eigentum. Eine Staatsquote von 30 bis 40 Prozent hält Cui für „gesund“, die Modernisierung der Infrastruktur für unverzichtbar. Gerade letztere sieht die Stadtregierung nicht als Kosten-, sondern Einkommensfaktor. „Wir geben die Kosten für den Ausbau von Straßen und Brücken an die Unternehmen weiter, die hier siedeln wollen. Etwa über Mieten für Grundstücke.“ Die Firmen haben keine Wahl, als zu bezahlen. Bauland selbst erwerben, können sie nach chinesischem Recht nicht, doch profitieren die Unternehmen durch niedrigere Gewerbesteuern von den Kostenersparnissen der Kommune. Der Steuersatz liege bei 15 gegenüber 35 Prozent im Rest des Landes, so Cui.

In der Tat sind die Zahlen beeindruckend: Zuletzt wuchs die Chongqinger Wirtschaftsleistung um 14,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. In den Außenbezirken entstehen weiter Fabriken und Wohnviertel im Rekordtempo. Die Rate der Auslands- investitionen bleibt hoch. Für die Wirtschaft lohnt sich das Modell offenbar, auch wenn das alte Chongqing diesen Boom nicht überlebt.

Gebückte Männer

Schon vor 3.000 Jahren gab es hier ein Handelszentrum, das seinen Stellenwert auch nach der Vereinigung Chinas im dritten Jahrhundert behielt. Im Zweiten Weltkrieg floh die Regierung der Republik China nach Chongqing, nachdem sie von den Japanern aus Nanjing vertrieben wurde. Nach Kriegsende trafen sich in Chongqing Mao Zedong und Nationalistenführer Chang Kai-shek, um über die Nachkriegszeit zu verhandeln. Als dies scheiterte und ein Bürgerkrieg ausbrach, blieb die Stadt eine Bastion der Nationalisten. Damit war es vorbei, als Mao Zedong am 1. Oktober 1949 in Peking die Volksrepublik ausgerufen hatte.

Einige der historischen Stätten werden von der Stadtregierung bewahrt, aber vom alten Stadtbild selbst ist nicht mehr viel übrig. Bald wird es noch weniger sein. Nicht weit vom Zentrum mit seinen glitzernden Wolkenkratzern entfernt liegt das Viertel Shibati. Geschäfte, Restaurants und Wohnhäuser dicht gedrängt. Der Geruch von Kochöl liegt über dem Viertel, an vielen kleinen mobilen Ständen verkaufen alte Frauen Wassermelonen, Fleischspieße und lebende Enten. Gebückte Männer mit Strohhüten tragen an dicken Bambusstäben befestigte Lasten den Hügel hinauf, an dem die Siedlung an Höhe gewinnt. Autos fahren nur selten durch diese Gegend.

Das Leben in Shibati hat sich wenig verändert in den zurückliegenden Jahren. In wenigen Monaten soll das Viertel abgerissen werden. Die Stadt braucht Platz für neue Hochhäuser, die jetzigen Bewohner sollen dann in andere Stadtteile und moderne Wohnungen ziehen. Ein anderer Rayon, der kann in Chongqing freilich hundert Kilometer weit weg liegen. Oder mehr.

Widerstand dagegen regt sich nicht in Shibati. „Es ist gut, dass hier endlich etwas passiert“, sagt ein Bewohner des Viertels. Der Lebensstandard werde in den neuen Wohnungen wohl höher sein. Toiletten zum Beispiel gäbe es hier längst nicht in allen Häusern.

So gelassen wurde selten umgezogen. Einige Kilometer den Jangtse stromabwärts steht der Drei-Schluchten-Staudamm – durch die Inbetriebnahme der Anlage 2006 wurde der ehemals flache Strom um rund 90 Meter aufgestaut. Dörfer und Kleinstädte versanken wie einst das sagenhafte Atlantis. 1,4 Million Menschen mussten umgesiedelt werden, viele nach Chongqing. Kaum ein Großprojekt in Chinas jüngerer Geschichte war umstrittener. Jahrelang verhandelte die Regierung über Abfindungen, zugleich wurde Druck auf die Anwohner ausgeübt. Weiter den Jangtse hinauf sollen bis 2020 noch einmal vier Millionen Menschen umgesiedelt werden. Es gibt Proteste.

Wächst Chongqing auf Kosten der kleinen Leute? Cui Zhiyuan wiegelt ab. Schließlich gebe die Stadtregierung viel Geld für soziale Projekte aus, stelle billigen Wohnraum für Arbeiter zur Verfügung und halte so die Mietpreise niedrig. Trotzdem ist schwer von der Hand zu weisen, dass vom Höhenflug Chongqings bislang wenig bei der Bevölkerung ankommt. Fast drei Viertel der Einwohner gehören laut Registratur noch zur Landbevölkerung, auch wenn sie faktisch im Stadtgebiet wohnen. Wer wo gemeldet ist – daran scheiden sich die Ansprüche auf soziale Leistungen, die einem Bürger zustehen. Während der Stadtbevölkerung kostenlose Bildung, medizinische Versorgung und eine gewisse Rentenversicherung garantiert werden, haben die Landbewohner meist nichts davon und müssen selbst Vorsorge treffen. Deren Einkommen liegt im Schnitt bei etwa 4.000 Yuan (zirka 460 Euro) pro Kopf und Jahr und damit nur unwesentlich über der Armutsgrenze, die von der Weltbank mit einem Dollar pro Tag gezogen wird.

Geständnisse unter Folter

Im Inneren der Stadt ist davon allerdings nicht zu merken. Hier reihen sich westliche Ketten wie Starbucks, McDonald’s oder ­Kentucky Fried Chicken an chinesische Nobelhotels und Restaurants. Für die einheimische Oberschicht und ausländische Investoren ist Chongqing eine gelungene Spielwiese – auch weil hier eine der sonst chronischen chinesischen Krankheiten ausgerottet zu sein scheint – die Korruption.

In einem der größten Verfahren der vergangenen 20 Jahre ging die Kommunistische Partei unter Chongqings Parteisekretär Bo Xilai 2009 gegen das organisierte Verbrechen und korrupte Beamte vor. Gegen mehr als 9.000 Verdächtige wurde ermittelt, Hunderte Verfahren waren eingeleitet. Unter den Verurteilten fand sich auch Prominenz wie der ehemalige Polizeichef von Chongqing, gegen den wegen Bestechlichkeit und Vergewaltigung das Todesurteil verhängt und vor wenigen Monaten vollstreckt wurde. Doch was zunächst aussah wie ein flächendeckender Schlag gegen Filz und Korruption administrativer Eliten hat auch Schattenseiten. Nationale und internationale Medien berichten, dass Geständnisse von Beschuldigten unter Folter zustande kamen. Ein Untersuchungshäftling soll gezwungen worden sein, zehn Tage lang vornübergebeugt zu stehen. Einen anderen hätten die Vernehmer tagelang an den Zehen aufgehängt, so der Anwalt.

Bisher blieben derartige Berichte noch ohne Folgen. Der Erfolg bei den Ermittlungen überstrahlt alle Zweifel, auch wenn Experten bestreiten, dass der Schlag gegen eine ausufernde Vetternwirtschaft dauerhafte Konsequenzen haben wird. Doch darum geht es nur am Rande. Die Kampagne diente wohl mehr Parteichef Bo Xilai, der sich durch die von ihm mitgesteuerte Entwicklung seiner Stadt für Höheres empfohlen hat. Chongqing boomt weiter – die Fassaden aus Beton und Glas wachsen weiter gen Himmel.

Julian Heißler war in den vergangenen Monaten als Reisekorrespondent in Chinaunterwegs

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Julian Heißler

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