Die Reisebusse kommen nur langsam durch die enge Gasse, die die Hauptstraße mit dem Platz zwischen dem Trommel- und dem Glockenturm verbindet. Dabei sind es heute noch wenige. Nur vier klimatisierte Busse stauen sich an den Geschäften, vor denen die Besitzer Fleischspieße auf ölverschmierten Rosten braten. Doch die Besucher kommen ja nicht nur mit dem Bus. Die Straßen sind voll von Rucksacktouristen, die sich in einer der nahe gelegenen Herbergen einquartieren wollen. Das Gebiet um den Trommelturm mit dem Namen Gulou ist bei Touristen beliebt. Hier, nicht weit nördlich der Verbotenen Stadt, besteht Peking noch nicht aus modernen Hochhäusern mit Glasfassaden oder praktischen Waschbetonbauten. Hier stehen noch die Hofanlagen, die das Stadtbild über Jahrhunderte prägten – die Hutongs.
Es sind kleine, oft nur einstöckige Häuschen, die hier Wand an Wand das Straßenbild beherrschen. Hinter den grauen Backsteinfassaden liegen oft nur ein oder zwei enge Räume. Das Leben findet deshalb auf der Straße statt. Alte Männer sitzen um einen wackeligen Holztisch und spielen Mahjong, andere verkaufen heiße Süßkartoffeln aus matt schimmernden Metallwägelchen. In den schmalen Gassen zwischen den Backsteinmauern lehnen rostige Fahrräder an den Wänden, darüber haben die Bewohner ihre nasse Kleidung zum Trocknen aufgehängt. Über allem liegt der Geruch von Kochöl.
„So oder so ähnlich sieht es hier schon seit Jahrzehnten aus“, sagt die Besitzerin eines Second-Hand-Ladens. Das stimmt allerdings nicht ganz. Gerade das Gulou-Areal hat sich in den vergangenen Jahren sehr verändert. Fast 800 Jahre lang war hier eine reine Wohngegend, heute hingegen werben Coffeeshops mit weichen Sesseln und dunkelbraunen Holztischen um Kundschaft. Dazwischen haben sich hippe Restaurants und kleine Designerläden angesiedelt, die die Touristen auf der Suche nach dem „echten“ Peking anlocken wollen. Auch den kleinen Second-Hand-Laden an der Gulou Dajie gibt es noch keine fünf Jahre. Viele der Backpacker, aber auch so manches Mitglied der neuen chinesischen Mittelschicht kleidet sich hier mit den passenden Retroklamotten ein. „Wir wollen hier gerne bleiben“, sagt die Besitzerin.
Ob sie das dürfen, ist jedoch alles andere als sicher: Im vergangenen Jahr gab die Pekinger Stadtregierung bekannt, das Areal „umbauen“ zu wollen. An die Stelle der Hutongs soll die „Beijing Time Cultural City“ treten. Neben einem Museum sollen Einkaufszentren und Parkplätze die Stelle der wild gewachsenen Hutonggässchen einnehmen. Die Verwaltung verspricht sich davon ein noch höheres Besucheraufkommen und vor allem höhere Steuereinnahmen aus dem Gebiet. Kleine Geschäfte wie der Second-Hand-Shop führen kaum Einnahmen an den Staat ab. Filialen großer Unternehmen versprechen mehr Rendite.
Steine werden zu Plastik
„Es war erstmal ein Schock für uns“, erinnert sich der Mann hinter der Bar. Seine Kneipe liegt direkt auf einer zentralen Einkaufs- und Bummelmeile. Seinen Namen will er nicht in einer ausländischen Zeitung wissen – wie auch sonst kaum jemand, der die Umbaupläne der Stadtregierung ablehnt. Trotzdem organisierten die Ladenbesitzer Widerstand. In den kleinen Designershops verkauften sie T-Shirts mit der Aufschrift „Nicht abreißen“ oder „I love Hutong“ und sammelten so Geld, um sich gegen die Pläne zu wehren. Zu frisch war noch die Erinnerung an den letzten großen Modernisierungsschub der Stadtregierung. Damals, im Vorfeld der Olympischen Spiele, wurden viele Hutong-Gebiete abgerissen oder so stark umgebaut, dass von ihrem ursprünglichen Charakter nicht mehr viel übrig war. „So etwas wollen wir hier doch nicht“, sagt der Barbesitzer.
Die Erfolge von Chinas Öffnungspolitik sind heute überall sichtbar. Nach drei Jahrzehnten rapiden Wachstums geht es den Chinesen wirtschaftlich besser als jemals zuvor. Doch das hat seinen Preis. Lange wurde auf das Jahrhunderte alte kulturelle Erbe des Landes kaum Rücksicht genommen. Was der Modernisierung im Wege stand, wurde schlicht abgerissen. Doch das will die neue chinesische Mittelschicht nun nicht mehr hinnehmen. Im ganzen Land gibt es mittlerweile Proteste gegen die Megaprojekte des Staates. Der Streit um den Erhalt der alten Hutongsiedlung in Peking ist hierfür nur ein Beispiel von vielen.
Drachen-Mülleimer vor McDonald's
Qianmen, das Gebiet südlich des Tiananmen gilt heute vielen Hutongbewohnern als Mahnung dafür, was schief gehen kann, wenn der Modernisierungsdrang der Regierung bei ihnen ankommt. Auch in diesem Areal sollte das historische Erbe der alten Kaiserstraße, die ehemals vor den Toren Pekings lag, herausgestellt werden. Doch was dabei herauskam, nennt ein Einheimischer nur lakonisch „Disneyland“.
Langsam zuckelt die Eisenbahn die vielleicht zwei Kilometer lange Straße entlang. Der Wagon ist ganz auf Vergangenheit getrimmt, schließlich ist das Thema der Strecke „Peking in den 1920ern“. Links und rechts der Gleise aber haben die üblichen Verdächtigen ihre Filialen in den grauen Backsteinhäusern eröffnet. H im Hutong? Eher nicht. Von den ursprünglichen Häusern steht hier nichts mehr, nur die Farbe erinnert noch an die Vergangenheit. Dafür zieren rote Fahnen die Dächer die Geschäfte, Statuen stellen Szenen aus der Kaiserzeit nach. Drachen prangen auf den sandsteinfarbenen Mülleimern, die mit ihrem Kitsch-Design vor dem McDonald‘s stehen.
Ganz am Ende der Straße verwandeln sich die Steinwände plötzlich in Plastik. Hier ist der Umbau noch nicht abgeschlossen. Große Plakate weisen auf die Attraktionen der Zukunft hin: mehr Hotels, mehr Tee-Häuser, mehr Restaurants sollen es werden. Hinter den Wänden klafft derweil noch eine riesige Baugrube.
Nicht weit entfernt stehen noch einige der Hutongs. Neben kleinen Restaurants und Ständen an der Straße, an denen man eine frische Frühlingsrolle für umgerechnet 50 Cent kaufen kann, haben sich mittlerweile die Geschäfte breit gemacht, die auf der Hauptstraße niemand haben will. Sexshop reiht sich an Sexshop, hinzu kommen Touristenfallen: Pumpen zur Penisvergrößerung, Gummipuppen und „garantiert originale“ Essstäbchen und Tee-Service suchen neue Besitzer. Heute wohnt hier so gut wie niemand mehr. Und die Baugrube kommt immer näher.
„Wir wollen nicht, dass sich der Umbau der Stadt am Beispiel von Qianmen orientiert“, sagt He Shuzhong, Gründer des Beijing Cultural Heritage Protection Center (BCHPC), einer Non-Profit-Organisation, die sich für den Erhalt des Charakters des alten Peking einsetzt. Es gebe in der Stadtverwaltung immer noch Offizielle, die die Qianmen-Umgestaltung für einen Erfolg hielten.
Man muss das Leben in den Hutongs nicht romantisieren. Die Häuser sind eng, oft leben drei Generationen einer Familie auf knappstem Raum zusammen. Weniger als zehn Quadratmeter Wohnfläche pro Person sind nicht selten. An einigen Stellen hängen Stromkabel aus den Wänden, sanitäre Anlagen gibt es oft nicht. Über den Gassen liegt vielerorts der Gestank von Urin. Die Gemeinschaftstoiletten werden üblicherweise von fast allen Anwohnern benutzt, dafür aber recht selten gereinigt. Sogar in den schickeren Cafés in den Hutong-Vierteln hängen auf den Toiletten – so sie denn welche haben – oft Schilder mit der Aufschrift „Only Pipi Please“. Die teils improvisierten Hutong-Abwasserleitungen verstopfen leicht.
Alles original, na klar
Viele alt eingesessene Hutong-Bewohner haben deshalb auch wenig übrig für die Proteste gegen den Umbau: „Wir wollen, dass hier alles abgerissen wird, damit wir in eine bessere Umgebung ziehen können“, sagt Herr Zhang. Er ist mittlerweile 78 Jahre alt und bewohnt mit seiner Frau seit Jahrzehnten einen 20-Quadratmeter-Raum, nicht weit entfernt vom Trommelturm. An seinen Lebensbedingungen hat sich durch die kleinen Geschäfte wenig geändert. In die Gässchen hinter den Geschäftsfassaden verirrt sich selten ein Tourist. Hier glitzert nichts – und daran dürfte sich ohne Umbau so bald auch nichts ändern.
Anders sieht es nur im Herzen Pekings aus. Einen Abriss muss hier niemand befürchten. Die Hutongs an den Mauern der Verbotenen Stadt stehen schon lange unter Denkmalschutz. Die Fassaden sind hier sauberer als in den anderen Hutong-Siedlungen. Lose Kabel sieht höchstens, wer einen Blick hinter die penibel gepflegten Holztüren wirft, die die Hinterhöfe von der Straße trennen.
Es ist eine Gegend der Gegensätze. Das Hotel Emperor hat sich jeden seiner fünf Sterne wohl verdient. Alle Elemente des Hauses atmen Luxus. Moderne Fotografie ziert den in postmoderner Architektur gehaltenen Treppenaufgang zum Dach-Restaurant. Im Sommer stellen die Betreiber dort weitere Tische auf, dazwischen sprudelt ein kleiner Whirlpool, von dem aus der nasse Gast einen grandiosen Blick über die Dächer der Verbotenen Stadt hat. Das Bier kostet umgerechnet etwa fünf Euro.
Keine hundert Meter vom Emperor entfernt, klappt derweil ein Kioskbesitzer sein Bett hinter dem Tresen auf. Auf gut neun Quadratmetern lebt und arbeitet er, verkauft Zigaretten, Fertignudelsuppen und selbstgemachten Joghurt. Das Bier kostet umgerechnet fünfzig Cent. Jeden Morgen klappt er sein Bett zusammen, schiebt das schwere Metallrolltor vor dem Eingang nach oben und öffnet die Flügeltüren. Dann ist sein Kiosk geöffnet. Nachts, so gegen 22 Uhr, schließt er die Tür wieder, dann ist Feierabend. So geht das seit vielen Jahren. So wird es weitergehen.
Eine tolle Nachricht
Um den Kiosk herum locken Restaurants mit edlem Ambiente und „traditionell kaiserlicher Küche“ Kunden an, denen später Rechnungen präsentiert werden, die auch nach westlichen Maßstäben gepfeffert sind. Andere verkaufen T-Shirts mit Mao-Konterfei, Blechtassen mit Slogans aus der Kulturrevolution oder Schlüsselanhänger mit dem Tor des Himmlischen Friedens, die sich auch zu einer Nagelfeile oder einem Flaschenöffner umbauen lassen. Wieder andere haben Galerien eröffnet, in denen zwischen traditionellen Kaligraphien und Porträts von Mao, Deng oder Hu so ziemlich alles zu bekommen ist.
In Gulou versuchen die Anwohner einen anderen Weg zu gehen. Es scheint, als würde es ihnen gelingen. Nach Monaten des Protests kündigte die Stadtverwaltung an, auf den Umbau vorerst zu verzichten. „Die Umbaupläne gehören der Vergangenheit an“, zitierten mehrere Medien einen nicht weiter benannten Vize-Direktor der zuständigen Behörde. Das ist ungewöhnlich. In der Vergangenheit wurden die Bauprojekte der Regierung durchgezogen – Widerstand hin oder her.
„Es ist eine tolle Nachricht“, sagt Wu Lili vom BCHPC. „Es gibt allen Beteiligten Zeit darüber nachzudenken, wie wir den historischen Wert von Gulou erhalten und gleichzeitig den Lebensstandard der Bewohner verbessern können“. Gulou ist vorerst gerettet, doch über die Zukunft der anderen Hutongs in Peking sagt das nicht viel aus. Nur ein paar hundert Meter von Gulou entfernt, wo die Dimsums noch einen Yuan (zehn Cent) kosten und in den Restaurants mehr geraucht als gegessen wird, fragt man vergeblich nach einer Tasse Kaffee. Designerläden gibt es hier keine, dafür verkaufen alte Frauen auf der Straße „garantiert echte“ Nike-Socken im Fünferpack. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite hat kürzlich jemand einen Bauzaun errichtet.
Julian Heißler schreibt regelmäßig für den Freitag, manchmal auch als Reisekorrespondent aus China
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