Ist machbar, Herr Nachbar

Gewerkschaft Im Büro der Freien Arbeiter-Union Berlin haben Funktionäre nichts zu sagen. Sondern tatsächlich die Leute von der Straße
Ausgabe 05/2015

Tausende Menschen schieben sich an diesem Freitag durch die großen Tore des neuen Konsumtempels. Über fehlende Kundschaft kann sich die Mall of Berlin nicht beschweren. Warmes Licht umschmeichelt die Schaufenster der Läden. Das Geschäft brummt.

Doch nur wenige Meter weiter, am Rande des Leipziger Platzes, ist die Stimmung alles andere als festlich. Ein knappes Dutzend Männer in gelben Westen verteilt Flyer. Sie haben sich dick eingepackt, die Kälte ist eisig. Die Mall of Berlin kennen sie sehr gut – sie haben sie mit aufgebaut. Dafür sind sie aus ihren Heimatländern gekommen, die meisten aus Rumänien. Ihnen seien ein ordentlicher Arbeitsvertrag, eine angemessene Unterkunft und ein ordentlicher Stundenlohn versprochen worden, berichten sie. Doch nichts davon hätten sie bekommen. Deshalb demonstrieren die Arbeiter. „Mall of Shame – Erbaut auf Ausbeutung!“ steht auf einem großen Transparent.

„Der Mall-of-Berlin-Fall ist einer der größten, die wir seit langem übernommen haben“, sagt Stefan Kuhnt. Er ist Pressesekretär der Freien Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union Berlin (FAU), einer kleinen Gewerkschaft, der sich die rumänischen Bauarbeiter angeschlossen haben. Die FAU, 1977 gegründet, beruft sich auf die Prinzipien des Anarchosyndikalismus. Sie setzt auf die Selbstorganisation ihrer Mitglieder in weitgehend autonomen Gruppen, die direkt in den Betrieben angesiedelt sind. Die Gruppen – Syndikate genannt – schließen sich zu größeren Einheiten zusammen, bleiben aber selbstständig. Die Basis hat hier das Sagen, eine autonome Funktionärsebene gibt es nicht. Die Sekretäre, die ehrenamtlich das Tagesgeschäft führen, sind einer Vollversammlung verantwortlich, die jeden Monat tagt. Ohne deren Zustimmung geht so gut wie nichts.

Überwiegend betreibe man „pragmatische Gewerkschaftsarbeit“, sagt Kuhnt. Die „direkte Aktion“ ist Teil des Werkzeugkastens. Langfristig strebt die FAU „die Überwindung des Kapitalismus wie jeder Form von Herrschaft an“. So stand es mal auf der Webseite des Hamburger Syndikats. Damit machte sie sich nicht nur Freunde, 2011 wurde die FAU noch im Verfassungsschutzbericht erwähnt. Mehrere Landesverfassungsschutzämter haben sie im Blick.

Ideologisch (un)vorbelastet

Gefährlich sieht Kuhnt allerdings nicht aus. Der junge Mann sitzt in der FAU-Zentrale in Berlin-Mitte. Die Gewerkschaft hat sich im Souterrain eingemietet. Nur wenig Tageslicht fällt durch ein kleines Fenster in den vollgestellten Raum. Überall stehen und liegen Flugblätter herum. Im deckenhohen Bücherregal steht ordentlich sortiert der Handapparat der FAU – thematisch geordnet von Arbeitsrecht bis zum Spanischen Bürgerkrieg. Etwa 300 Mitglieder habe die FAU in Berlin. Es versammelten sich Anarchisten, Anarchosyndikalisten und Linke, aber auch „ideologisch unvorbelastete“ Arbeiter. Die Gewerkschaft biete Schulungen im Arbeitsrecht an, könne bei Verhandlungen helfen oder Anwälte vermitteln. Auch bei den Mall-of-Berlin-Protesten stehe das Praktische im Vordergrund. Schließlich seien die rumänischen Arbeiter „keine linken Revoluzzer“, so Kuhnt.

Einer von ihnen ist Bogdan. Im vergangenen Sommer kam er nach Berlin, um die Mall mit aufzubauen. Heute fühlt er sich betrogen. Nachdem er angekommen sei, habe er zunächst zwei Tage auf der Straße schlafen müssen, da sein Auftraggeber keine Unterkunft bereitgestellt habe. Danach sei er mit 14 anderen Arbeitern in einer Zweizimmerwohnung ohne ordentlich funktionierende Dusche gelandet, die dennoch 1.800 Euro Miete gekostet habe. Da er jedoch seinen Lohn nicht bekommen habe, sei er schnell wieder auf der Straße gelandet. Jetzt helfe ihm die FAU: „Wir konnten ein paar Nächte in ihren Büros übernachten“, erzählt er. Außerdem habe die Gewerkschaft mit Lebensmitteln ausgeholfen und unterstütze bei den Protesten. „Wir melden etwa die Kundgebungen an und stellen Material zur Verfügung“, sagt Kuhnt. Außerdem habe die FAU eine Spendenkampagne für die Arbeiter gestartet. Bogdan sagt, seine Kollegen und er seien der FAU sehr dankbar. Die Unternehmen, gegen die sich der Protest richtet, äußerten sich gegenüber dem Freitag nicht zu den Vorwürfen.

Vor Gericht

Bei den Arbeitgebern kommen die Anarchosyndikalisten selten gut an. Als die FAU etwa 2009 mit den Betreibern des Kinos Babylon in Berlin über höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen verhandeln wollte und deshalb zu einem Boykott aufrief, landete sie vor Gericht. Der FAU wurde per einstweiliger Verfügung verboten, sich „Gewerkschaft“ oder „Basisgewerkschaft“ zu nennen. Erst ein Jahr später wurde der Beschluss zurückgenommen. Auch der Mall-of-Berlin-Fall beschäftigt die Justiz. Der Bauunternehmer erwirkte mittlerweile eine einstweilige Verfügung, die der FAU untersagt, gewisse Darstellungen gegen ihn öffentlich zu äußern. Gleichzeitig plant die Gewerkschaft, den Investor der Mall of Berlin, den Generalunternehmer und alle Subunternehmer zu verklagen. Der Protest soll die Verfahren begleiten. „Wir kämpfen auf jeden Fall weiter“, sagt Bogdan.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Julian Heißler

War auch mal beim Freitag

Julian Heißler

Die Vielfalt feiern – den Freitag schenken. Bewegte Zeiten fordern weise Geschenke. Mit dem Freitag schenken Sie Ihren Liebsten kluge Stimmen, neue Perspektiven und offene Debatten. Und sparen dabei 30%.

Print

Für 6 oder 12 Monate
inkl. hochwertiger Weihnachtsprämie

Jetzt sichern

Digital

Mit Gutscheinen für
1, 6 oder 12 Monate

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden