Heiner Geißler ist in diesen Tagen nicht zu beneiden. Gerade mal neun Monate ist es her, da feierte ihn die Öffentlichkeit. Der ehemalige CDU-Generalsekretär galt auf einmal als Symbolfigur für ein neues Miteinander von Regierung und Bevölkerung. Er hatte es als Schlichter geschafft, die verhärteten Fronten zwischen Gegnern und Befürwortern des Bahnhofsprojekts Stuttgart 21 zumindest vorübergehend aufzubrechen.
An Geißlers Tisch versammelten sich Bahn und Parkschützer, Regierung und Opposition. Sie alle suchten nach einem Weg, wie man den Streit über das Milliardenprojekt beilegen könne. Das Fernsehen übertrug live, bis zu 5,6 Millionen Menschen sahen zu.
Ergebnisse durchgesickert
Heute steht Geißler vor den Trümmern seiner Schlichtung. Die Kontrahenten sind zerstritten wie zu Beginn der Auseinandersetzung. Dabei hätte es in diesen Tagen endlich Klarheit darüber geben sollen, wie es mit Stuttgart 21 weitergeht. Gemeinsam sollte der Stresstest vorgestellt werden – eine Simulation, die überprüfen sollte, ob der geplante Tiefbahnhof wirklich 30 Prozent mehr Fahrgäste zu Stoßzeiten bewältigen kann.
Doch seit vor einigen Wochen die ersten Ergebnisse durchsickerten, ist die Stimmung zwischen den Konfliktparteien wieder auf Augenhöhe mit dem geplanten Tiefbahnhof. Schlichter Geißler hat sich blamiert. Nicht zuletzt, weil ihm die Bahnhofsgegner das Vertrauen entzogen haben, nachdem er in der vergangenen Woche eingestand, dass Stuttgart 21 wahrscheinlich nicht mehr zu stoppen sei.
Die Gegner haben Zeit
Aus heutiger Sicht, ließen die Projektgegner wissen, sei es ein Fehler gewesen, Geißler als Schlichter zu akzeptieren. Da half es auch nicht mehr, dass sich die Bahn und ihre Kontrahenten doch noch darauf einigen konnten, die öffentliche Präsentation des Stresstests einige Tage nach hinten zu verschieben. Am vergangenen Wochenende demonstrierten wieder Tausende vor der Baustelle. Wie konnte es so weit kommen?
Es geht um Zeit. Die Bahnhofsgegner haben sie, die Bahn nicht. Je länger der Bau von Stuttgart 21 herausgezögert wird, desto höher dürften die Kosten für den unterirdischen Bahnhof ausfallen. Die Bahn rechnet bereits jetzt mit einer Summe von mehr als 4,1 Milliarden Euro. Abbrechen möchte sie die Bauarbeiten angeblich, wenn die Planung irgendwann ergibt, dass der Bahnhof mehr als 4,5 Milliarden Euro kosten wird. Das Hochtreiben der Ausgaben ist somit die beste Chance, die Stuttgart-21-Gegner noch haben, um das Großprojekt zu stoppen.
Zweifel am Stresstest
Den Stresstest scheint Stuttgart 21 bestanden zu haben. Entsprechende Informationen werden seit Wochen gestreut – sowohl von der Bahn als auch von der neuen grün-roten Landesregierung. Dabei ist das Testverfahren noch gar nicht abgeschlossen. Das sieht nämlich vor, dass zunächst die Bahn eine interne Berechnung anstellt, die dann von dem unabhängigen Schweizer Institut SMA geprüft wird.
Obwohl das SMA noch rechnet, sind die Ergebnisse der Bahn seit einiger Zeit im Umlauf. Aufgeschreckt von den Zahlen begannen die Bahnhofsgegner schon vor Wochen damit, den Stresstest in Zweifel zu ziehen. Die Kriterien des Tests hatten sie jedoch im Rahmen der Schlichtung selbst mit ausgearbeitet. Die Bahn hat zwar gewartet, bis sie die Stresstestunterlagen auch den Gegnern übergeben hat – trotzdem war sie noch früh dran: Während der Schlichtung war ein Termin zwei Wochen später vereinbart worden.
Nun wurde auch der Ergebnis-Präsentationstermin verschoben, der Protest der Bahnhofsgegner zeigt Wirkung. Doch bei der Bahn ist man mit der Geduld mittlerweile am Ende. Ein weiteres Entgegenkommen könne das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 nicht mehr erwarten, heißt es intern. Wenn das Institut SMA die Berechnungen der Bahn bestätige, werde man aufs Tempo drücken. Ende des Monats soll der erste Tunnel ausgeschrieben werden. Zeit ist schließlich Geld.
Volksabstimmung? Schwierig
Damit bleibt den Bahnhofsgegnern wenig Hoffnung, den geplanten Tiefbahnhof noch zu verhindern. War der Stresstest tatsächlich erfolgreich, kann nur noch ein Volksentscheid Stuttgart 21 verhindern. So haben es Grüne und SPD auch im Koalitionsvertrag vereinbart.
Doch dass der Bau des Tiefbahnhofs auf diesem Weg wirklich gestoppt werden kann, glaubt kaum jemand in der Landesregierung. Die öffentliche Meinung in Baden-Württemberg hat sich seit dem vergangenen Sommer gewandelt. Mittlerweile unterstützt eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger den Umbau zum Tiefbahnhof. Zudem gibt es hohe Hürden für einen erfolgreichen Volksentscheid. Mindestens ein Drittel aller Wahlberechtigten des Landes müsste gegen den Bahnhof stimmen, damit ein entsprechendes Ausstiegsgesetz angenommen wird. Das wären 2,5 Millionen Wählerstimmen – mehr, als Grüne und SPD bei der letzten Wahl zusammen bekommen haben.
Um das hohe Quorum in der Landesverfassung abzusenken, bräuchte die grün-rote Regierung die Unterstützung der CDU. Doch die denkt gar nicht daran, der Regierung diesen Gefallen zu tun. Sowieso: Die SPD will im Falle eines Volksentscheids für den Tiefbahnhof werben. „Wenn Stuttgart 21 für weniger als 4,5 Milliarden Euro zu haben ist, wird der Bahnhof gebaut“, verlautet es aus der Partei.
Die Bahn könnte klagen
Selbst wenn ein Volksentscheid erfolgreich wäre: Die Probleme für Grün-Rot hören nicht auf. Steigt das Land Baden-Württemberg aus dem Projekt aus, wird die Bahn auf gültige Verträge verweisen und Schadensersatz fordern. Derzeit steht die Summe von 1,2 Milliarden Euro im Raum – das ist in etwa so viel, wie das Land für den Bahnhofsumbau bezahlen müsste. „Die Frage ist doch, ob man das Geld für einen Bahnhof ausgibt oder ob man das Geld ausgibt und am Ende keinen Bahnhof hat“, heißt es in der Landes-CDU. Eine Entscheidung gegen den Umbau sei der Bevölkerung dann auch schwer zu vermitteln.
Es sieht also schlecht aus für die Gegner von Stuttgart 21. Aufgeben werden sie aber noch lange nicht. Und auch von der Bahn ist kein Einlenken zu erwarten. Stuttgart 21 ist mittlerweile zu einem Symbol geworden. Aus Sicht der Gegner steht das Projekt für einen Staat, der sie nicht ernst nimmt. Die Bahn sieht mit Stuttgart 21 sämtliche Großprojekte in Deutschland auf der Kippe. Schwer vorstellbar, dass beide Seiten noch einmal zusammen an einen Tisch kommen – schon gar nicht an den von Heiner Geißler.
Julian Heißler hat für den Freitag zuletzt vor allem über Umweltthemen geschrieben
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