Mehrheit allein reicht nicht

Volksentscheide Das Schweizer Votum zeigt, wo die direkte Demokratie ihre Grenzen hat. Die Rechte von Minderheiten müssen gewahrt werden
Mehrheit allein reicht nicht

Foto: Michael Buholzer/ AFP/ Getty Images

Volksentscheide können eine wunderbare Sache sein. Wenn der Münchner Flughafen eine neue Startbahn bekommen oder der Stuttgarter Bahnhof verbuddelt werden soll, dann gibt der Volksentscheid der Bevölkerung die berechtigte Möglichkeit, den Daumen zu heben oder zu senken. Die Planung muss sich dann mehr am Willen der Bevölkerung orientieren, die Projekte gewinnen an Legitimität.

Volksentscheide können aber auch eine widerliche Sache sein. Wenn die Bevölkerung sich, aufgepeitscht durch stumpf-rassistischen Populismus, gegen Minderheiten wendet. In der Schweiz ist genau das in den vergangenen zehn Jahres mehr als einmal geschehen. Die Schweizer Verfassung verbietet mittlerweile den Bau von Minaretten. Sie sieht vor, dass Ausländer abgeschoben werden, die des Sozialhilfemissbrauchs überführt wurden. Und sie wird demnächst Quoten enthalten, wie viele Ausländer aus welchen Ländern noch einandern dürfen – einschließlich Asylbewerber. Alle drei Entscheidungen sind beschämend. Und sie zeigen, dass ein Plebiszit nicht immer die beste Lösung ist, um gesellschaftliche Fragen zu lösen.

Ja, der Ausländeranteil an der Schweizer Bevölkerung ist hoch. Offiziellen Zahlen zu Folge haben 23,5 Prozent der Bevölkerung keinen roten Pass. Das geht nicht spurlos an einem Land vorbei. Doch anstatt besonnen darüber zu diskutieren, was die hohen Zuwandererzahlen für die Schweiz bedeuten, drückt die rechte SVP mit teilweise nicht nur latent rassistischen Wahlplakaten und immer neuen Gesetzesinitiativen der Debatte ihren Stempel auf. Als Vehikel nutzt sie die Volksabstimmung – mit beängstigendem Erfolg.

Unter dem Deckmäntelchen der Volkszustimmung höhlt sie damit das zweite zentrale Charakteristikum neben der Mehrheitsentscheidung aus, das in einer Demokratie unverzichtbar ist: den Minderheitenschutz. Hier hat die Schweiz eine Leerestelle. Man kann über das deutsche System viel und berechtigt schimpfen, doch wenn der Bundestag entscheidet, dass Minarette prinzipiell nicht mehr gebaut werden dürfen, dann kassiert das Bundesverfassungsgericht diesen offensichtlichen Verstoß gegen die Religionsfreiheit. Eine solche Kontrollfunktion fehlt in der Schweiz. Was vom Volk beschlossen wird, hat Verfassungsrang. Die Betroffenen dürfen nur hoffen, dass die öffentliche Stimmung sich irgendwann zu ihren Gunsten wendet. Doch so lange sie das nicht tut, muss sie ihre Grundrechtsverletzung in Kauf nehmen. Das ist ein unsäglicher Zustand.

Rechte sind keine Privilegien

Die Schweizer sind keine schlechteren Menschen, als die Deutschen. Das zeigt ein Blick auf das Politbarometer vom 17. Januar. Auf dem Höhepunkt der von der CSU losgetretenen Debatte über die angebliche Zuwanderung von Bulgaren und Rumänen in deutsche Sozialsysteme, glaubten fast zwei Drittel der Deutschen, dass viele Ausländer vor allem nach Deutschland kommen, um Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen. Man kann sich denken, wie eine Volksabstimmung über Zuwanderung zu diesem Zeitpunkt ausgegangen wäre. Die AfD fordert übrigens mittlerweile, dass deutsche Zuwanderungsrecht nach dem Schweizer Vorbild zu ändern.

Es ist gut, dass solche hoch emotionalen Debatten erst ins Abklingbecken der parlamentarischen Demokratie kommen, bevor der Gesetzgeber eine Antwort gibt. Natürlich würde auch das behäbige deutsche System von mehr direkter Demokratie profitieren, aber nicht alle Fragen kann eine einfache Mehrheit beantworten. Rechte sind nicht Privilegien, die der Minderheit von der Mehrheit gewährt werden. Sie sind für eine Demokratie unverzichtbar. Das macht sie nicht verhandelbar. Darüber lässt sich nicht abstimmen.

Mehr Macht für das Volk? Die Gegenposition zum Thema Volksentscheide lesen Sie hier

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Geschrieben von

Julian Heißler

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