Verschwende niemals eine Krise! Dieses Motto von Barack Obamas ehemaligem Stabschef Rahm Emanuel scheint mittlerweile auch im Berliner Regierungsviertel angekommen zu sein. Zwei Wochen vor den wichtigen Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg stürzen sich Regierung und Opposition auf die neu entfachte Atomdebatte. Nur erwischen wollen sie sich dabei nicht lassen. Denn der Vorwurf auf dem Rücken der japanischen Katastrophe Wahlkampf zu machen, könnte politisch verheerend wirken.
Sitzungsraum 1.554 im Jakob-Kaiser-Haus ist gut gefüllt. Auf der einen Seite des langen Holztisches hat sich ziemlich komplett die Prominenz von Bündnis 90/Die Grünen versammelt. In ihrer Mitte sitzen Lothar Hahn, ehemals Geschäftsführer der Gesellschaft für Anlagen und Reaktorsicherheit und Wolfgang Renneberg, früher einmal Leiter der Abteilung Reaktorsicherheit im Bundesumweltministerium unter den Ministern Sigmar Gabriel – und Jürgen Trittin. Auf der anderen Seite des Tisches sitzt die versammelte Hauptstadtpresse.
Hat hier einer Baden-Württemberg gesagt?
Zu einem „Presseöffentlichen Fachgespräch“ hatten die Grünen geladen – und fachlich wird es dann auch schnell. Renneberg und Hahn referieren über freiliegende Brennstäbe in Fukushima, über die Probleme mit der Sicherheitshülle, über Explosionsgefahr. Doch schon bald geht es hier nicht mehr nur um Japan. „Inwieweit kann man deutsche und japanische Atomkraftwerke vergleichen?“, fragt Sylvia Kotting-Uhl, Grünen-Sprecherin für Atompolitik. „Wenn ich es richtig verstehe, folgen die Störfälle immer dem gleichen Schema: Erst ein Stomausfall, dann funktioniert die Kühlung nicht mehr und dann folgt die Kernschmelze. Kann das in Deutschland auch passieren?“, fragt Bärbel Höhn. Hahn nickt: „Die Anlagen in Japan und Deutschland sind sich sehr ähnlich“, antwortet er, „und der bestmögliche Sicherheitsstandard wird nirgends erreicht. Es handelt sich immer um einen Kompromiss.“ So mancher Grüner muss sich in diesem Moment ein Grinsen verkneifen. Schöner kann man das schwarz-gelbe Mantra von Sicherheit über allem anderen nicht auseinander nehmen. Und es musste noch nicht mal einer Baden-Württemberg sagen.
Das vermeiden die Anwesenden auch tunlichst. Als eine Journalistin nach den politischen Auswirkungen des Unglücks in Japan auf den Landtagswahlkampf fragt, antwortet Fraktionschef Jürgen Trittin einfach nicht. Dafür verteilen Mitarbeiterinnen der Pressestelle eine Studie über die Risiken alter Kernkraftwerke und ein Dossier über den Sicherheitszustand der 17 deutschen Atomkraftwerke. Die ersten Einträge: Neckarwestheim 1, Neckarwestheim 2, Philippsburg 1, Philippsburg 2.
Ein dünnes Zugeständnis
Nur ein paar hundert Meter entfernt tritt kurz darauf die ernst dreinblickende Kanzlerin flankiert von ihrem ernst dreinblickenden Vize vor die wartenden Journalisten. Es ist kein guter Tag für schwarz-gelb. Die erst vor wenigen Monaten beschlossene Laufzeitverlängerung für die deutschen Atomkraftwerke steht wegen der Katastrophe in Japan unter Beschuss. Schon machen Gerüchte im Regierungsviertel die Runde, die Koalition würde das Gesetz jetzt doch wieder kassieren. Doch soweit kommt es dann doch nicht. „Wir können auf die Kernenergie als Brückentechnologie noch nicht verzichten, wir können aber auch nicht einfach zur Tagesordnung übergehen ohne einmal Inne zu halten“, verkündet Angela Merkel. Dann kündigt sie an, die Laufzeitverlängerung erst einmal drei Monate auszusetzen. Ein dünnes Zugeständnis an die AKW-Gegner.
Doch auch Merkel und Westerwelle können sich den kleinen Seitenhieb nicht verkneifen. Wer die deutsche Energieversorgung komplett auf erneuerbare umstellen wolle, der müsse ins Stromnetz investieren. Das bedeute neue Trassen und neue Speichermöglichkeiten für Energie. Diese Debatte müsse ehrlich geführt werden, so die Regierungschefin. Eine nicht gerade subtile Attacke auf die Grünen, die sich mit neuen Stromtrassen traditionell schwer tun. Trotzdem: Auch im Kanzleramt fällt das Wort Baden-Württemberg nicht ein einziges Mal.
Aussetzen oder aussitzen?
Auf dem Platz vor der Regierungszentrale versammeln sich derweil die ersten AKW-Gegner. Sie haben zu Mahnwachen in der ganzen Bundesrepublik geladen. Aktionsbündnisse, Parteien und Gewerkschaften sind dem Ruf gefolgt – rund 2.500 Teilnehmer sollen es schließlich sein. Wer als Oppositionspolitiker etwas auf sich hält, ist gekommen und die Rednerliste würde einer Generaldebatte im Bundestag gut zu Gesicht stehen. Sigmar Gabriel spricht, Gesine Lötzsch und Claudia Roth. Sie alle attackieren Merkels Moratorium. „Es kann nicht sein, dass mit den Ängsten in Deutschland Spielchen gespielt werden“, ruft Gabriel den Zuhörern entgegen. Lötzsch nennt den Vorschlag einen „Wahlkampftrick“. Roth meint, die Kanzlerin wolle mit ihrem Plan nur „aussitzen und ablenken“. Die Zuhörer sind elektrisiert. Immer wieder branden Sprechchöre auf, Trillerpfeifen schrillen durch den Abend, Fahnen werden geschwenkt.
Und wieder hat keiner Baden-Württemberg gesagt.
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