Einmal mehr hat es die Ukraine gezeigt: Die Besetzung eines zentralen Platzes – in diesem Fall des Maidan – kann die Aktion sein, an der sich eine revolutionäre Bewegung kristallisiert und den Schwung aufnimmt, um das alte Regime aus dem Amt zu jagen. Diesem Phänomen widmet sich auch Costas Douzinas in seinem Buch Philosophie und Widerstand in der Krise.
Douzinas’ Ausgangspunkt ist das Jahr 2011. Protestierer überall auf der Welt besetzten öffentliche Plätze. Die Zeltlager vom Tahrir-Platz in Kairo bis zum Zuccotti-Park in New York wurden zu Symbolen einer neuen Widerstandskultur. Im selben Jahr kürte das Time Magazine den Protestierer zur Person des Jahres.
Politik, Medien und auch Philosophie reagierten zunächst mit Sprachlosigkeit. Die Besetzungen waren eine unerwartete Form des Protests gegen bestehende (Herrschafts-)Strukturen, auf die Regierungen und Machthaber nicht vorbereitet waren. In Tunesien und Ägypten fegten die Besetzer autokratische Regierungen hinweg, in New York hingegen scheiterte Occupy Wall Street auch an sich selbst.
Rechte Splittergruppen
Douzinas, Professor am Birkbeck-Institut der Universität London, beschreibt am Beispiel der Besetzung des Syntagma-Platzes in Athen den Ursprung dieser Widerstandsform. Ebenfalls im Sommer 2011 versammelten sich tausende Demons-tranten auf dem zentralen Platz gegenüber dem griechischen Parlament und versuchten, die radikalen Sozialkürzungen im Zuge der Schuldenkrise zu verhindern. Für Douzinas ging es in diesem Protest jedoch um mehr als um das Verhindern eines schmerzhaften Kürzungspakets. Die Krisenpolitik sei einer Aufkündigung des Gesellschaftsvertrags gleichgekommen. Der Druck der Troika aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds habe die Demokratie in Griechenland faktisch abgeschafft. Es drohe die „Rückkehr zu einem viktorianischen Kapitalismus, der von einem autoritären Staat aufrecht erhalten“ werden muss.
Auch wenn die Proteste, die 2011 in aller Welt stattfanden, sehr unterschiedlichen Ursprungs waren, so sieht Douzinas sie dennoch als Ausdruck eines stärker werdenden antikapitalistischen Gefühls – in Ägypten wie in Griechenland. Für Douzinas ist durch die Besetzungen ein neues Zeitalter angebrochen. Mehrfach bezieht er sich auf das angebliche „Ende der Geschichte“, das der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama 1992 postulierte, nachdem die Sowjetunion in sich zusammengebrochen war. Die kurze Epoche, in der die liberale und marktwirtschaftliche Demokratie als letztgültiges Gesellschaftsmodell galt, habe mit der Protestwelle ihr Ende gefunden. Er übersieht, dass eben jenes gesellschaftliche Modell nie die globale Dominanz entfaltete, die Fukuyama dereinst voraussagte. Auch überschätzt er die Bedeutung, die die Besetzungen für den weiteren Verlauf der Ereignisse weltweit hatten. Von Tunesien abgesehen kam es in allen Ländern des Arabischen Frühlings zu einer Form von Konterrevolution – am prominentesten wohl in Ägypten. In Kiew ist die Lage noch zu unübersichtlich, als dass sie bereits als Erfolg einer antikapitalistischen Umwälzung gedeutet werden könnte. Die zentralen Plätze in den europäischen Hauptstädten sind längst geräumt, ohne dass die bestehenden Systeme großen Schaden genommen hätten. Ja, zahlreiche Regierungen wurden abgewählt, aber die große Systemfrage wurde aller Austeritätspolitik zum Trotz in Europa noch nicht anders beantwortet. Auch Griechenland kehrte an die Kapitalmärkte zurück.
Diesen Einwand will Douzinas nicht gelten lassen. Er verweist auf die hervorragenden Umfragewerte des griechischen Linksbündnisses Syriza. Allerdings konnte Syriza diese noch nie in tatsächliche Macht ummünzen.
Überhaupt versteht Douzinas die Platzbesetzungen als dezidiert linkes Phänomen. Im stärksten Teil des Buches weist er die philosophischen Ursprünge der heutigen Besetzungen im Widerstandsrecht der ersten demokratischen Verfassungen im postrevolutionären Frankreich und den USA nach, immer bedroht von liberalen Gegenbewegungen, die auf Kontinuität der Regierung setzen – im Zweifel auch durch Zwangsmaßnahmen und Notstandsrechte. Dass auf den Plätzen nicht nur aufrechte Sozialisten campierten, sondern womöglich auch rechte Splittergruppen, ist für Douzinas Propaganda – ein Versuch, die Bewegungen insgesamt zu diskreditieren.
Hier zeigt sich einmal mehr der überoptimistische Blick, den der Autor auf das Phänomen hat. Das Scheitern vieler Besetzungen und die vielerorts bestenfalls unübersichtlichen Ergebnisse blendet er aus. Insofern ist Douzinas eine sehr inte-ressante philosophische Herleitung gelungen, die allerdings den Realitätstest nicht immer besteht.
Philosophie und Widerstand in der Krise Costas Douzinas Laika 2014, 313 S., 24,00 €
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.