Der Freitag: Frau Göring-Eckardt, auf der Seite der Grünen-Bundestagsfraktion kann man einen Test machen, um herauszufinden, welcher Freiheitstyp man ist – zwischen gemeinschaftsunfähigem Soziopathen und regulierungswütigem Ökodiktator. Was ist bei Ihnen herausgekommen?
Katrin Göring-Eckardt: Ich bin Mainstream, also das, was man früher in K-Gruppen eine „Scheißliberale“ nannte. Das hatte ich allerdings auch so erwartet. Insgesamt haben 10.000 Menschen den Test gemacht, etwa die Hälfte sind Normalos wie ich. Aber wir hatten auch zehn Prozent sogenannte „Ökodiktatoren“.
Ist das „Scheißliberale“ auch der Mainstream in der Partei?
Die Kategorien sind ja nicht ganz ernst gemeint. Aber klar bewegt sich bei uns die Mehrheit in der Mitte zwischen einer Welt ohne Regeln und der totaler Korsetts. Wir haben uns vorgenommen, in diesem Jahr den grünen Freiheitsbegriff im Spannungsfeld zu Ökologie, Gerechtigkeit und Demokratie auszuloten. Im „scheißliberalen Mainstream“ meiner Partei ist man dann, wenn man anderen nicht vorschreiben will, wie sie zu leben haben, aber eine Ordnung herstellen will, nach der nicht der eine auf Kosten der anderen lebt. Um es mit Luther zu sagen: „Ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ Es geht also darum, dass wir in der Lage sein müssen, Verantwortung für die Gemeinschaft zu übernehmen.
Freiheit ist ein Begriff, den alle Parteien irgendwie für sich beanspruchen. Was ist das Besondere am grünen Freiheitsbegriff?
Er ist wertgebunden und hat verschiedene Dimensionen, genau wie unser Gerechtigkeitsbegriff. Freiheit geht nur in Gemeinschaft, sonst funktioniert es nicht. Deshalb haben wir Grünen immer die Freiheit der anderen im Blick. Dazu gehören auch die Schöpfung, die Natur, aber auch die kommenden Generationen und diejenigen, auf deren Kosten wir unseren Lebensstil führen. Wenn wir hier beispielsweise einen Fleischkonsum haben, der auf Kosten von Menschen in der Dritten Welt geht, die keine Lebensgrundlage mehr haben, weil sie Soja für unsere Viecher produzieren müssen, dann muss man da strukturell etwas ändern. Das wird auch bedeuten, dass Dinge einen ökologischen und sozialen Preis haben, den man global betrachtet nicht einfach outsourcen kann.
Der Begriff „Verbotspartei“ haftete im vergangenen Jahr hartnäckig an Ihnen. Wird es nicht schwer, die Öffentlichkeit von den Grünen als liberaler Kraft zu überzeugen?
Zu sagen, die Grünen sind die liberale Partei wäre genauso falsch wie dieses Verbotslabel. Wer sich seriös für Ökologie, soziale Gerechtigkeit und eine freiheitliche Demokratie einsetzt, kommt doch gar nicht umhin, das richtige Maß zwischen diesen Werten immer wieder neu auszuloten. Wir machen das auf offener Bühne, weil politischer Diskurs Reibung braucht. In den Zeiten von Angela Merkel mehr denn je. Man darf nicht vergessen, dass wir aus einer freiheitlichen Tradition kommen: im Osten aus der Bürgerrechtsbewegung, im Westen aus den Neuen Sozialen Bewegungen.
Wie sehr unterscheiden sich diese Freiheitstraditionen aus Ost und West?
Das ist natürlich ein großer Unterschied. Das eine ist in einer Diktatur entstanden, das andere in einer Demokratie. Aber es ist aus der gleichen Wurzel gewachsen – dem Wunsch, frei zu sein von Bevormundung und autoritären Gesellschaftsstrukturen. Wenn ich meine Reisefreiheit erst erkämpfen muss, hinter der Mauer hocke und Gefahr laufe, ins Gefängnis zu kommen, wenn ich meine Meinung sage, dann ist das etwas anderes, als wenn ich in der Demokratie gegen meinen Lehrer aufstehe oder gegen die CSU demonstriere. Aber es ist der gleiche Impuls.
Ist es nicht ein Widerspruch, die Gesellschaft nach ökologischen Vorstellungen umzubauen und gleichzeitig die Freiheit des Individuums zu betonen?
Genauso ist es ein Widerspruch im Namen der Freiheit den Planeten zu plündern. Solche Politik gibt es zuhauf. Und wir sind ja keine Öko-Diktatoren, sondern balancieren auf dem dünnen Schnittpunkt zwischen Ökologie, Gerechtigkeit und Freiheit. Ich würde es auch umdrehen: Als Individuum ist man erst frei, wenn man andere Menschen als Partner hat. Ganz banal ausgedrückt: Ich kann zwar ganz alleine leben, aber wenn ich noch an einen anderen Kühlschrank gehen kann, wenn meine Milch sauer ist, dann bin ich freier, als wenn ich das nicht kann.
Was heißt das für Ihre Sicht auf den Staat? Der ist ja nicht der übliche Verbündete von Liberalen ...
Der Staat, in dem ich aufgewachsen bin, definitiv nicht. Der, für den ich politisch eintrete, ist dafür da, zu ermöglichen und denen Chancen zu geben, die bislang keine Chancen haben. Da kommen Fragen der Bildungs- und Sozialpolitik ins Spiel. Ohne die kann man Freiheit nicht denken. Außerdem muss der Staat für verbindliche Regeln sorgen, aber nicht alles regulieren. Er muss den Rahmen vorgeben. Beispiel Schulpolitik. Der Staat muss dafür sorgen, dass es Schulen gibt und dass die Schulpflicht eingehalten wird. Aber er muss nicht bestimmen, welches Kind auf welche Schule geht.
Die liberale Staatsskepsis ist bei Ihnen also nicht zu Hause?
Nein. Der simple Satz, dass sich nur die Starken einen schwachen Staat leisten können, gilt. Wenn es um Bildungs- oder Sozialpolitik geht, muss man den Schwachen nun mal deutlich mehr helfen. Daran kommt man nicht vorbei. Die Freiheit des Einzelnen sich entwickeln zu können, ist vielleicht in die Wiege gelegt, aber danach hängt es gerade bei uns noch zu sehr von Bildungsstand und Einkommen der Eltern ab. Das bin ich nicht bereit hinzunehmen, weil es die Freiheit einer großen Gruppe von Menschen einschränkt.
Wie passt das zu den Steuererhöhungsplänen auf Ihrem letzten Wahlprogramm?
Grundsätzlich gar nicht so schlecht, wenn Sie sich anschauen, wofür wir das Geld ausgeben wollten, nämlich für Bildung und soziale Transferleistungen. Da gehört das Geld auch hin. Die Frage der Chancengerechtigkeit ist eben auch Teil des Freiheitsbegriffes.
Zum Liberalismus gehört auch der Wirtschaftsliberalismus, der seit der Finanzkrise diskreditiert ist.
Auch das ist eine Strukturenfrage, gerade in der Finanzwirtschaft. Da haben wir den Zustand, dass die Gesellschaft von großen Banken abhängig ist. Das Gebaren vieler Player der Finanzwirtschaft war nicht durch Freiheit geprägt sondern durch asoziales Verhalten. Das geht nicht. Bei Unternehmen sehe ich das ein bisschen anders. Wenn wir eine ökologische Revolution schaffen wollen, dürfen wir Unternehmen nicht an die Kette legen, sondern müssen die Spielregeln sukzessive in Richtung ökologische Vernunft ändern. Wir müssen gemeinsam mit den Unternehmen schauen, mit welchen Veränderungen wir den Umbruch schaffen und gleichzeitig wettbewerbsfähig bleiben können.
Sehen Sie das auch bei Internetriesen so? Immerhin sammeln sie massiv Daten ihrer Nutzer. Auch darin sehen viele eine Gefahr für die Freiheit ...
Wir brauchen staatliche Regelungen, sodass wir den Internetriesen nicht ausgeliefert sind. Ich erwarte, dass die Persönlichkeitsrechte der Nutzer gewahrt bleiben, und dass Transparenz darüber besteht, was mit ihren Daten geschieht. Wer dann seine Daten weiter abgeben will, der soll das tun. Ich will das Netz nicht verdammen – ich finde es gut, dass beispielsweise der Arabische Frühling sich über das Internet verbreiten konnte. Auf dem Maidan oder im Gezi-Park konnten Menschen nicht mehr von der Polizei verprügelt werden, ohne dass es dokumentiert wurde. Das Netz hat diese Revolutionen nicht gemacht, aber wir wussten, in welcher Straße sie gerade waren. Aber die andere Seite gehört auch dazu. Ich finde es wichtig, dass wir auch noch Geheimnisse haben können. Früher musste man sie vor dem Staat verbergen, jetzt auch vor den Internetriesen. Damit ist der Staat jetzt in der Rolle, die Bürger vor den Unternehmen schützen zu müssen. Das ist neu.
Die Liberalen von der FDP fliegen aus allen Parlamenten. Warum wollen Sie ausgerechnet diese Lücke füllen?
Das wollen wir gar nicht. Wir würden diese Debatten auch dann führen, wenn es gar keine FDP gäbe. Wenn es noch FDP-Wähler gibt, denen das Bürgerrechtserbe wichtig ist und die nicht schon längst bei uns sind, dann sind die natürlich gerne willkommen. Aber die Wähler der Westerwelle-Steuersenkungs-FDP werden wir mit unserem Programm auch nicht ansprechen können.
In Ihrem Heimatland Thüringen hat Rot-Rot-Grün im Landtag einen Sitz Mehrheit. Reicht das für eine Koalition?
Jetzt sondieren wir erst einmal. Dann schauen wir, ob es zu Verhandlungen kommt und inhaltlich passt. Ich würde es mir wünschen, auch wenn es für mich kein leichter Schritt zur SED-Nachfolgepartei wäre. Aber man muss auch anerkennen, dass vor allem in den vergangenen fünf Jahren mit der Linkspartei in Thüringen einiges passiert ist, was den Umgang mit der eigenen Vergangenheit angeht. Davor habe ich Respekt.
Das Interview ist eine leicht gekürzte Version der Printfassung.
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