Wir sollten mehr Streit wagen

Urteil Die Fünf-Prozent-Hürde erfüllt nicht mehr ihren ursprünglichen Zweck. Eine Debatte über ihre Zukunft ist überfällig
Ausgabe 11/2014

Ob es wollte oder nicht: Mit seiner Entscheidung, die Drei-Prozent-Hürde für Europawahlen zu kippen, hat das Verfassungsgericht eine Diskussion über die Fünf-Prozent-Hürde bei Bundestagswahlen angestoßen. Das Urteil fiel auf fruchtbaren Boden. Schließlich ist es erst wenige Monate her, dass FDP und AfD nur knapp an jener Hürde scheiterten und heute in der Bundespolitik nur eine untergeordnete Rolle spielen. Insgesamt landeten die Stimmen von 15 Prozent der Wähler im Papierkorb. Kann das gerecht sein? Demokratisch?

Sicher nicht. Die Hürde verletzt ganz eindeutig den demokratischen Grundsatz, dass jede Stimme gleich viel wert sein soll. Sie hatte bisher Bestand, weil sie dem politischen Interesse der im Bundestag vertretenen Parteien dient. Wer einmal drin ist, der fliegt üblicherweise nicht mehr raus – hält sich durch die Hürde aber kleinere Parteien vom Leib. Die FDP und die Grünen (West) sind die große Ausnahme.

Schutz vor politischer Konkurrenz

Eingeführt wurde sie 1949 aus den besten Motiven. Nach den turbulenten letzten Jahren der Weimarer Republik wollten die Väter und Mütter des Grundgesetzes zunächst für Stabilität sorgen. Das ist ein ehrenwertes Anliegen. Doch aus dem Schutzmechanismus vor einem zerstückelten Parlament ist ein Schutzmechanismus vor politischer Konkurrenz geworden.

Kein Wunder also, dass die etablierten Parteien fast alle die Fünf-Prozent-Hürde retten wollen. SPD und Grüne stehen fest zur Klausel, auch wenn einzelne Abgeordnete wie Hans-Christian Ströbele nicht mitziehen. CDU-Vize Thomas Strobl will sie sogar ins Grundgesetz aufnehmen, damit das Verfassungsgericht sie nicht doch noch in Frage stellen kann. Das ist nicht ausgeschlossen: Linken-Chef Bernd Riexinger kündigte bereits an, eine Klage gegen die Hürde zu prüfen.

Drohen Deutschland nach 65 ruhigen Jahren jetzt also doch irgendwann wieder Weimarer Verhältnisse? Natürlich nicht. Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass Deutschland heute auch von einer Großen Koalition regiert würde, wenn es im vergangenen September keine Fünf-Prozent-Hürde gegeben hätte. Aber mit FDP, AfD, Piraten und vermutlich auch der NPD hätte Schwarz-Rot heute eine größere Opposition gegen sich. Demokratietheoretisch kann man sich das nur wünschen.

Ohne Stabilität geht es nicht

Allerdings birgt dieses Szenario auch Gefahren. Ein so bunter Bundestag würde es den Volksparteien schwer machen, eine Regierung gegen die jeweils andere zu bilden. Große Koalitionen wären nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel. Für die kleinen Parteien bedeutet das entweder die politische Marginalisierung oder eine Zukunft als Dauerprotestpartei. In Österreich kann man besichtigen, wozu diese Konstellation führen kann.

Ganz ohne Hürde wird es zumindest auf Bundesebene also nicht gehen. In die Verfassung gehört sie trotzdem nicht. Das Wahlrecht muss die Möglichkeit behalten, sich auf neue Entwicklungen in der Gesellschaft einzustellen. Die Wähler brauchen keinen Vormund, der sie vor angeblich unvernünftigen politischen Entscheidungen schützt. Aber er hat auch ein Anrecht auf eine lebendige politische Kultur – und dazu gehören Regierungswechsel. Wo hier die beste Grenze verläuft, darüber muss gestritten werden. Fünf Prozent sind jedenfalls zu hoch.

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Geschrieben von

Julian Heißler

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