Es ist deprimierend, einen Blick auf die aktuellen deutschen Bestsellerlisten zu werfen. Von immer noch relativ weit oben grüßen seit Wochen die Bücher des ehemaligen Berliner Finanzsenators Thilo Sarrazin und des zum politischen Kommentator gewandelten Katzenkrimischreibers Akif Pirinçci – zwei Werke, die vor spießiger Kleinbürgerlichkeit nur so strotzen. Sie predigen Abgrenzung statt Offenheit und giften auf teils widerwärtige Weise gegen Menschen, deren Lebensentwürfe ihnen nicht passen. Sie geben sich als Sprachrohre einer unterdrückten Mehrheit aus, als Stimmen der Freiheit – und sind doch das genaue Gegenteil. Sie geben dem hässlichen Deutschen ein Gesicht – dem ewigen Untertanen, der alles, was ihm nicht passt, am liebsten verbieten will. Mit Liberalität haben ihre Schriften nichts zu schaffen – und doch finden sie ihr Publikum. In Massen.
Es ist nicht so, als hätte es der deutsche Liberalismus jemals leicht gehabt. Regiert haben das Land immer die Anderen, liberale Parteien durften höchstens den Mehrheitsbeschaffer spielen – eine Rolle, in der die FDP in der alten Bundesrepublik voll aufging. Sie plakatierte mal Schmidt, mal Kohl, um ihre eigenen Wahlergebnisse zu verbessern. Auch im vergangenen Jahr versuchte sie es wieder, indem sie sich an die konservative Kanzlerin kettete. Nur diesmal ging sie baden und flog zum ersten Mal in ihrer Geschichte aus dem Bundestag. Der Liberalismus wird in Deutschland nicht mehr nachgefragt. Gerade einmal ein gutes Viertel der Deutschen sieht für eine liberale Partei überhaupt noch eine Existenzberechtigung – für die FDP, die sich an diesem Wochenende zum Parteitag trifft, liegen die Werte noch darunter. „In den gesellschaftlichen Diskussionen spielt Freiheit seit langem kaum eine Rolle“, schreibt Renate Köcher, die Chefin des Meinungsforschungsinstituts Allensbach in ihrer Wahlanalyse.
Vor der Bedeutungslosigkeit
Gibt es in der deutschen Politik also noch einen Platz für den politischen Liberalismus? Die Freiheit des Einzelnen spielt in fast jeder politischen Sonntagsrede eine Rolle. Bürgerrechte wollen alle achten – von der Linken bis zur CSU. Braucht es also vielleicht gar keine eigenständig-liberale Kraft mehr in der deutschen Politik, weil das liberale Gedankengut in die anderen Parteien aufgenommen wurde?
Katja Suding schüttelt den Kopf. Seit dem Herbst gehört sie dem Präsidium der FDP an. Der neue FDP-Chef Christian Lindner hat sie in seine Führungsmannschaft geholt, um seiner Partei ein neues Image zu verpassen. Doch damit allein wird es nicht getan sein. „Wir müssen vor allem inhaltlich nachlegen“, sagt Suding.
Erst nach der Bundestagswahl rückte sie in die Parteispitze auf. Zuvor führte sie im Jahr 2011 den Hamburger Landesverband nach zwei Legislaturperioden in der außerparlamentarischen Opposition wieder in die Bürgerschaft. Auf eine Koalitionsaussage verzichtete sie damals. Damit passt Suding zum Kurs Christian Lindners. Er will die FDP inhaltlich wieder breiter aufstellen, wegkommen vom Image der Egoistenpartei, die im September vom Hof gejagt wurde. Künftig will sie wieder Menschen in allen Lebenslagen ansprechen. Deshalb erarbeitet die Parteiführung Konzepte zu Themen, die mit der FDP in der jüngeren Vergangenheit eher nicht in Verbindung gebracht wurden. Suding etwa kümmert sich um Familienpolitik.
„Für mich persönlich spielt das Thema Chancengerechtigkeit die entscheidende Rolle, also wie schaffen wir es, durch Bildungs-, Sozial- und Gesundheitspolitik jeden Einzelnen in die Situation zu versetzen, so erfolgreich zu sein, wie es ihm oder ihr möglich ist“, sagt sie. Es sind Töne, die man in der FDP lange nicht gehört hat. Die kurze Phase, als das eher linksliberale Freiburger Programm den Kurs der Partei bestimmte, liegt auch bald 40 Jahre zurück. Doch wenn die Partei nicht in der Bedeutungslosigkeit verschwinden will, muss sie den eher skeptischen Deutschen klar machen, dass sie den Kurswechsel schaffen kann. Doch das ist längst nicht ausgemacht. Die Basis duldet die Neuausrichtung zwar, doch wenn die Erfolge ausbleiben, könnte es eng werden. Bei der Europawahl gelten intern fünf Prozent als Zielmarke – auch wenn Christian Lindner das öffentlich nicht bestätigen will. Gut möglich, dass die Partei darunter bleibt und sogar hinter der AfD landet. Bei den Landtagswahlen im Herbst drohen ebenfalls Rückschläge. Auch Suding weiß, dass es nicht leicht wird. Die Zielmarke sei trotzdem, 2017 wieder in den Bundestag einzuziehen. „Dafür müssen wir auch weiter die Partei der wirtschaftlichen Vernunft sein“, so Suding weiter, „das ist ganz zentral.“
Die Verbindung von linksliberalen Werten und wirtschaftlicher Kompetenz soll die FDP also retten – doch ausgerechnet diese Mischung beansprucht auch eine andere politische Kraft seit Jahren für sich. Die Grünen, insbesondere aus Baden-Württemberg, setzen schon lange auf diese Mischung. Gerhard Schick ist einer von ihnen. „Die FDP hatte schon immer eine liberale Rhetorik. Aber in der Regierungspraxis hat sie weitestgehend die Interessen von Big Business durchgesetzt“, sagt er. Schick ist der finanzpolitische Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion. Auch er bezieht sich auf Walter Eucken, wenn er über Wirtschaftsliberalismus spricht. Eucken ist der Erfinder des modernen Neoliberalismus und Lieblingsökonom der FDP. Dennoch kommt Schick zu anderen Ergebnissen. „Der Staat macht einerseits zu viel und verschwendet mit aufgeblähten Strukturen viel Geld und schränkt die Freiheiten der Menschen ein“, sagt der Grüne, „auf der anderen Seite hat er an manchen Stellen zu wenig, was Aufsichtsstrukturen, Marktkontrolle und Wettbewerbskontrolle angeht.“ Wenn das nicht gegeben sei, entstünde eine gefährliche Situation. Die Politik richte sich dann an den Bedürfnissen der großen Konzerne und Banken aus. Die Rechte der Bürger blieben auf der Strecke. „Machtwirtschaft“ nennt Schick dieses Phänomen, zu dem er auch ein Buch geschrieben hat.
Die Bevölkerung bleibt still
Ausgerechnet die Grünen sollen also die neue Hoffnung des politischen Liberalismus sein? Die Partei, die im Wahlkampf mit Steuererhöhungen punkten wollte und den Menschen angeblich die Bratwurst in der Kantine nicht mehr gönnte? Die Grünen machten es ihren Gegnern leicht, sie als „Verbotspartei“ zu betiteln. Und jetzt sollen sie die freiheitliche Idee hochhalten?
„Man konnte uns so labeln, weil die Balance nicht mehr gestimmt hat“, sagt Schick, „wir Grünen waren über lange Zeit die am stärksten emanzipatorische Kraft in der deutschen Politik. Wir haben Themen wie die Rechte von Frauen oder die Gleichstellung von Homosexuellen bis tief in die Gesellschaft hineingetragen.“ Doch je mehr diese Themen auch von den anderen Parteien übernommen würden, desto mehr verlören sie an Strahlkraft. Damit seien in der Wahrnehmung die geforderten Verbote immer wichtiger geworden. Für die Grünen war das verheerend.
Auch heute sucht die Partei noch die richtige Balance zwischen der Freiheit des Einzelnen und gesellschaftlicher Verantwortung. Erst kürzlich machte sie mit der Forderung nach eine Null-Promille-Grenze von sich reden – mit dem Label „Verbotspartei“ werden die Grünen noch eine Weile leben müssen. Als eindeutig liberale Stimme werden sie nicht wahrgenommen.
Dabei wäre eine solche Stimme gerade jetzt notwendig. Schließlich ist es erst wenige Monate her, dass die Enthüllungen Edward Snowdens der Welt vor Augen führten, wie die persönliche Freiheit der Bürger durch eine übergroße staatliche Datenkrake immer weiter beschnitten wird. Zwar leisteten und leisten einzelne Politiker auch aus den Reihen von FDP und Grünen gute Arbeit, wenn es um die Aufklärung des Skandals geht. Keine Partei hat sich jedoch die notwendige Aufklärung als Alleinstellungsmerkmal auf die Fahnen geschrieben. Das mag auch daran liegen, dass die Öffentlichkeit überraschend still hält. Nur die Medien schimpfen lautstark über den Skandal.
Wer wissen will, wie wichtig das Thema dennoch ist, der muss sich mit Constanze Kurz unterhalten. Sie ist die Sprecherin des Chaos Computer Clubs, Deutschlands wichtigster Hacker-Vereinigung. Kurz ist die vielleicht prominenteste Vertreterin der Aktivisten, die sich für Bürgerrechte in der digitalen Welt stark machen. Sie bilden eine Enklave, die liberale Werte auch heute noch hochhalten. Die Resonanz in der Bevölkerung ist allerdings überschaubar.
Die Netzgemeinde kümmert sich um zahlreiche Themen, die in der Politik eher eine untergeordnete Rolle spielen. Es geht um Themen wie Netzneutralität, also dass alle Daten im Internet gleich behandelt werden sollen. Es geht um Fragen der Regulierung der Internet-Giganten wie Google oder Facebook. Es geht um die Frage, welche Rolle der Staat bei der Gestaltung des Netzes spielen soll. Und es geht um Überwachung, um Fragen der Privatsphäre und Anonymität. Nicht erst seit den Snowden-Enthüllungen ist dieser Bereich in den Fokus der Aktivisten gerückt. „Überwachung und ihre Folgen werden selten konkret im Leben des Einzelnen deutlich. Wer für mehr Überwachung wirbt, hat dagegen sehr starke Bilder auf seiner Seite: Terror! Taliban!“, sagt sie. „Diese Angstkultur ist emotional viel stärker als der Gedanke, dass jemand meine Kommunikation mitliest.“
In der Tat scheinen die Deutschen vor vielem Angst zu haben – vor ihrem Staat aber nicht. Lediglich 15 Prozent haben den Eindruck, dass sich die Obrigkeit zu sehr in die Belange der Bürger einmischt. Warum sollte sich die Politik dann zurücknehmen? So konnte es geschehen, dass Bürgerrechte im schwarz-roten Koalitionsvertrag keine Rolle spielen. Vor der Vorratsdatenspeicherung, dem anlasslosen massenhaften Sammeln privater Verbindungsdaten, musste uns der Europäische Gerichtshof retten.
Gegen diese politische Untätigkeit regt sich trotzdem kaum Widerstand. Die aktive Internetgemeinde hat es bislang nicht geschafft, ihren liberalen Gesellschaftsentwurf in der Bevölkerung zu verankern. Eine wirklich liberale Partei müsste diese Impulse aufgreifen und bürgerliche Freiheitskräfte auch außerhalb der Kategorien der 70er und 80er schützen und verteidigen. Doch so weit ist die deutsche Politik noch nicht gekommen, auch wenn der Kanzleramtsminister jetzt twittert und der Bundestag einen Internetausschuss einrichtete. Dass auch die Piratenpartei diese Lücke nicht füllen kann, hat sie durch ihre eigene Unfähigkeit eindrucksvoll bewiesen. So bleibt es bei dem traurigen Befund: Auf die digitalen Herausforderungen hat der politische Liberalismus in Deutschland es noch nicht verstanden, eine deutliche Antwort zu geben. Dabei liegt dort seine Zukunft.
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