"Sind Sie ein reicher Mann?" -"Nein." "Warum nicht?" - "Weil ich dumm bin." Diese zwei kurzen Antworten Ralph Baers auf die neugierigen Fragen der Journalisten, die ins Computerspielmuseum in Berlin gekommen sind, um den Vater der Videospiele´ kennen zu lernen, bringen die Lebensgeschichte des 84-Jährigen knapp auf den Punkt. Allerdings ist immer noch nicht wirklich klar, ob diese Lebensgeschichte Tragikomödie oder Hanswurstiade ist - oder eine Mischung aus beidem.
Um die Geschichte von Ralph Baer zu verstehen, muss man weit zurückgehen, bis ins Jahr 1938, als der junge Baer vor den Nazis in die USA fliehen musste. Auf Seiten der Amerikaner kämpfte er gegen die Deutschen, fand nach dem Krieg Arbeit als Ingenieur bei Sanders Associates, einem Rüstungsunternehmen, das später von Lockheed übernommen wurde.
Die Verstrickung zwischen Rüstung und Unterhaltung zieht sich als roter Faden durch die Geschichte der Videospiele. Als erstes Computerspiel gilt mittlerweile Tennis for Two, das 1958 von dem Ingenieur William Higinbotham erfunden wurde, der zuvor an der Entwicklung der Atombombe beteiligt gewesen war und danach weiter in der militärischen Forschung tätig war. Tennis for Two wurde für einen Tag der offenen Tür am Brookhaven National Laboratory entwickelt, um der Öffentlichkeit die Gesetze der Ballistik näher zu bringen; binnen kürzester Zeit wurde es dort zum Publikumsmagnet.
Dennoch ist nicht Higinbotham der Vater der Videospiele und auch nicht Steve Russell, der ein paar Jahre später Space War am Massachusetts Institute of Technology (MIT) programmierte, sondern Baer, der als erster das kommerzielle Potenzial dieser Erfindung erkannte, und ein Spiel erfand, das so einfach war, dass jeder es sofort begriff. "Etwas zu erfinden, ist leicht", sagt er, "es zu verkaufen, ist die eigentliche Schwierigkeit."
Die erste Schwierigkeit, mit der sich Baer bei der Erfindung der Videospielkonsole konfrontiert sah, war, dass sein Arbeitgeber keinerlei Interesse an Spielzeug hatte. Baer bezeichnete seine Erfindung also zunächst als Television Gaming and Training Apparatus´, womit er herausstreichen wollte, dass das Gerät auch zu militärischen Trainingszwecken benutzt werden könnte.
Wenn er davon erzählt, so tut er das mit schlitzohrigem Grinsen: "Ich habe versucht, vor meinen Vorgesetzten zu verbergen, dass es sich um ein Spiel handelt." Baer kokettiert gerne mit der eigenen Chuzpe und berichtet mit leuchtenden Augen davon, wie die Brown Box, der erste Prototyp der Spielkonsole, gewissermaßen hinter dem Rücken des Managements von Sanders entwickelt wurde.
Auch das ist typisch für die Geschichte der Videospiele. Am MIT waren es die Hacker des Tech Model Railroad Club, die die immens kostbare Zeit, die ihnen zur Verfügung stand, um mit einem der ersten Computer zu experimentieren, dafür verschwendeten, ein Spiel zu programmieren, das zunächst keinen unmittelbaren Nutzen zu haben schien. Aber gerade deshalb war es eben ein "Hack": eine technische Fingerübung, bei der nicht Effizienz, sondern Eleganz und Innovation zählen.
Baer würde sich selbst nicht als Hacker bezeichnen, aber er ist ein Tüftler und ein Erfinder. Neben der ersten Videospielkonsole gehört auch das populäre Spielzeug Senso zu seinen Erfindungen. Senso wurde 1978 im berühmten Studio 54, wo sich Andy Warhol und Muhammad Ali die Klinke in die Hand gaben, der Öffentlichkeit präsentiert, und zählt mittlerweile zu den kulturellen Ikonen der siebziger Jahre.
Aber auch an dieser Erfindung hat Baer selbst nicht viel Geld verdient. Es waren immer andere, die seine Ideen nahmen und damit Geld scheffelten. Allen voran Nolan Bushnell, der in der Lebensgeschichte des Ralph Baer die Rolle des Schurken spielt.
Bushnell war 1972, als Baer seine Videospielkonsole zum Patent anmeldete, 28 Jahre alt und hatte gerade seine erste Firma gegründet, die Syzygy Company, die später in Atari umbenannt wurde. Mit einer geklonten Version von Steve Russell´s Space War konnte er einen bescheidenen Erfolg erzielen, aber die Steuerung erwies sich als zu schwierig für die Gäste in den Bars, in denen Bushnell seine Automaten aufstellte. Also sattelte Bushnell auf Automaten um, auf denen ein Spiel lief, das Baers Spiel erstaunlich ähnlich war: PONG.
Dies wurde später Gegenstand eines Gerichtsverfahrens, aus dem Baer nur scheinbar als Sieger hervorging. Vor Gericht wurde zwar zweifelsfrei festgestellt, dass Bushnell Baers Prototypen auf einer Messe gesehen hatte, und dass die Rechte an PONG eigentlich nicht ihm gehörten. Aber es war ein Pyrrhus-Sieg für Baer, denn obwohl Atari nach dem Verfahren sein Lizenznehmer wurde, war es Bushnell, der in der Öffentlichkeit als Erfinder der Videospiele auftrat.
Schlimmer noch war es für Baer, dass die erste zur Marktreife entwickelte Brown Box, die unter dem Namen Magnavox Odyssey verkauft wurde, wie Blei in den Regalen lag. Bushnells Konkurrenzprodukt Home Pong schoss hingegen innerhalb kürzester Zeit an die Spitze der Verkaufscharts und war 1975 der meistverkaufte Artikel im Katalog des amerikanischen Versandhauses Sears.
Aus heutiger Perspektive ist es schwer nachzuvollziehen, was die Menschen an PONG faszinierte. Auf einem schwarzen Bildschirm bewegen sich zwei weiße Balken, die die Schläger´ darstellen, und dazwischen bewegt sich ein weißes Quadrat, der Ball´. Bushnell vereinfachte Baers ohnehin schon spartanisches Konzept sogar noch, indem er festlegte, dass sich die Schläger nur vertikal bewegen können, nicht jedoch nach links und rechts.
Aber so wie Senso ist auch PONG zur Ikone seiner Zeit geworden. Die Ausstellung PONG Mythos, die zur Zeit im Württembergischen Kunstverein gezeigt wird, versucht dem Phänomen PONG nachzuspüren, indem sie neben den Original-Automaten und -Konsolen auch rund 20 Exponate internationaler Künstler versammelt, die sich in ihren Arbeiten auf das Spiel beziehen.
Dies weist darauf hin, dass Computer- und Videospiele längst in den kulturellen Kanon eingegliedert sind, sogar in Deutschland, wo die öffentliche Diskussion über Computerspiele sich meist nur um ihre vermeintlich schädliche Wirkung dreht.
Während Baer mittlerweile in seiner Wahlheimat USA der gebührende Respekt gezollt wird - erst letztes Jahr wurde ihm von Präsident George W. Bush die National Medal of Technology verliehen - findet sein Besuch in Deutschland außer bei einer Handvoll Journalisten keine Beachtung. Aber vielleicht ist Baer auch froh, dass in Deutschland nicht viel Aufhebens um ihn gemacht wird. Auf die Frage, warum er erst jetzt an die Orte seiner Jugend, Pirmasens, Köln und Berlin, zurückgekehrt ist, antwortet er trocken: "Ich wollte warten, bis die alte Generation verschwunden ist. Jetzt ist es wieder ein schönes Land."
Das Erinnern und das Vergessen spielen ohnehin eine große Rolle im Leben des Ralph Baer. Er hat sämtliche Schriftstücke im Zusammenhang mit der Brown Box feinsäuberlich gesammelt und für die renommierte Smithsonian Institution einscannen lassen. Einen Auszug aus diesem 500-Seiten-Konvolut hat er in Form eines Buches mit dem Titel Videogames: In the Beginning herausgegeben.
Es ist ein kurioses Buch geworden, voller Reproduktionen von Schaltplänen, Fotos, Skizzen, Korrespondenz und Patentschriften - halb biografische Sammlung, halb technische Dokumentation. Es geht ihm darum, die historische Wahrheit´ seiner Erfindung zu attestieren, er sagt: "Geschichte wird erst dadurch zur Geschichte, dass man sie dokumentiert, denn die Erinnerung ist vollkommen unzuverlässig."
Aber vielleicht hat ihn die Geschichte schon längst überholt, vielleicht ist es zu spät, mit Bushnell und all den anderen abzurechnen. Die Resignation schleicht sich in Baers Stimme ein, wenn er davon erzählt, dass ein Einzelner keine Chance gegen milliardenschwere Firmen hat, wenn sie seine Urheberrechte verletzen.
Damit spricht Baer ein Problem an, das für die Computerspiel-Industrie zur Katastrophe werden könnte. Denn aktuelle Computerspiele sind vom technischen Standpunkt Palimpseste aus Programmcode und auch bei der Hardware ist das reverse engineering´, also die Industriespionage durch Analyse der Konkurrenzprodukte gang und gäbe. Wie kein anderes Medium sind Spiele geeignet, den Mythos vom Originalgenie auf den Müllhaufen der Geschichte zu befördern.
Neben einigen wenigen großen Namen - Will Wright, Sid Meier, Hideo Kojima - sind es weniger die "Autoren" von Spielen, die im Mittelpunkt des Interesses stehen, als die Firmen, für die sie arbeiten. Der Martin Walser der Computerspielbranche heißt Electronic Arts, während ihr Wladimir Kaminer Rockstar oder Lionhead heißt. Der große Unterschied besteht darin, dass die Walsers die Kaminers einfach auffressen.
Diese Konzentration der Industrie machen viele dafür verantwortlich, dass die Qualität der Spiele von Jahr zu Jahr abnimmt. Das Problem dabei ist, dass genau das Gleiche in den achtziger Jahren schon einmal passiert ist, kurz vor dem "Videogame Crash", der die amerikanische Computerspielindustrie fast auslöschte und das Feld über Jahre den Japanern überließ. Heute ist die Videospielindustrie um mehrere Dimensionen größer, ihr Umsatz wird mit dem Hollywoods verglichen.
Ralph Baer ist sich dennoch sicher, dass so bald kein neuer Crash kommt, dafür sei die technische Qualität heutiger Spielkonsolen einfach zu hoch. Aber auch er warnt davor, technische Leistungsfähigkeit als einzigen Indikator zu nehmen, schließlich seien es gute Spielideen, die die Leute zum Kauf motivieren. Und obwohl er die Probleme der Kommerzialisierung nicht verleugnet, sagt er im Brustton der Überzeugung: "Videospiele sind Kunst."
Ob Videospiele Kunst sind, lässt sich bezweifeln, ihre kulturelle Bedeutung hingegen nicht. Computerspiele wurden mittlerweile in der Barbican Gallery und im American Museum of the Moving Image ausgestellt, und seit den späten neunziger Jahren erscheinen Jahr für Jahr mehr wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Bücher, die sich mit dem Phänomen Computerspiel auseinandersetzen. Die Generation Golf ist auch die Generation PONG, ihre Angehörigen sind mit Computerspielen aufgewachsen.
Die ganze Tragweite von Baers Erfindung lässt sich daher erst jetzt ermessen. In ihrem Buch Wir waren Space Invaders vergleichen Matthias Mertens und Tobias Meißner die Ankunft der Spielkonsolen in den Wohnzimmern der siebziger und achtziger Jahre mit der Landung von UFOs - UFOs, die mit Holzfurnier beklebt waren, damit sie sich in ihrer neuen Umgebung tarnen konnten.
Die wahre Leistung Baers ist also nicht technischer oder ökonomischer, sondern kultureller Natur. Computerspiele gab es schon seit mehr als zehn Jahren, als er seine erste Brown Box zusammenbastelte, doch er war es, der sie mit dem Fernseher verband und damit das Medium der Videospiele schuf. Nur war es eben ein anderer, der damit reich wurde.
Man könnte also erwarten, dass Baer ein alter, verbitterter Mann sei, aber das ist keineswegs der Fall. Baer verfügt über einen bemerkenswert scharfen Verstand, aber auch über einen gesunden Humor. Nolan Bushnell habe er das letzte Mal 1976 im Gerichtssaal gesehen, sagt er, und alles, was er dazu sagen könne, sei, dass Bushnell einen sehr niedrigen Preis für die Lizenz bezahlt habe, die ihn zum Millionär gemacht hat.
Aber auch sein langjähriger Arbeitgeber, Sanders Associates, hat ihn nie an den Gewinnen aus seiner Erfindung beteiligt, und Magnavox, der Hersteller der Odyssey genauso wenig. Fühlt Baer sich betrogen? - "Nein." "Warum nicht?" - "Weil ich dafür machen konnte, was ich wollte. Diese Freiheit kann man nicht bezahlen."
Dass Baer nun so selbstbewusst wirkt, hängt sicher auch damit zusammen, dass ihm nun endlich die Aufmerksamkeit zuteil wird, die ihm sein ganzes Leben lang verwehrt geblieben ist. Er genießt es sichtlich, über seine Erfindung zu sprechen, die Brown Box den ehrfürchtigen Journalisten vorzuführen.
In dem Moment, als Baers Hände sich auf die klobige Kontrollarmatur legen, und auf dem schwarzen Bildschirm zwei weiße Balken und ein Quadrat erscheinen, wird die ganze Faszination des Spiels schlagartig offensichtlich: PONG ist die Essenz des Spielens, ein Wettkampf nicht zwischen Mensch und Maschine, sondern zwischen Mensch und Mensch, eine dialogische Bewegung. Ping und Pong.
Die Geschichte der Videospiele ist voller Widersprüche - zwischen Innovation und Nachahmung, zwischen Kunst und Kommerz, zwischen Avantgarde und Mainstream. Insofern ist es nur allzu passend, dass auch der Vater der Videospiele´ eine widersprüchliche Figur ist, die zwischen Bescheidenheit und Selbstüberschätzung schwankt.
Von der breiten Öffentlichkeit werden Computerspiele noch immer hauptsächlich als grell, brutal und sexistisch wahrgenommen. All das ist wahr. Aber es ist auch wahr, dass sie auch leise Töne anschlagen können, dass sie die Augen eines 84-Jährigen zum Leuchten bringen können, wie die eines kleinen Kindes. Vielleicht ist es Zeit, Computerspiele endlich als kulturelles Medium ernst zu nehmen.
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