Vernetzte Geschichten

Zwangsarbeiter Ein neues Internetportal erzählt die Schicksale der Zwangsarbeiter in Nazi-Deutschland. Es ist für Forscher gedacht, wendet sich aber auch an interessierte Laien

„Nein, nein, das kann nicht sein, es kann nicht sein, dass uns so etwas passiert“, dachte Liliana S., als man ihrem Vater und ihr die Einreise in die Schweiz verwehrte 1943. Die italienische Jüdin wurde in ihr Heimatland zurückgeschickt, dort verhaftet und im Januar 1944 zur Zwangsarbeit nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Ihr Vater wurde vergast, die 14-jährige Liliana überlebte – auf einer Odyssee durch verschiedene Konzentrationslager des Deutschen Reiches. Liliana S. ist eine von 590 ehemaligen Zwangsarbeiterinnen, deren Lebensgeschichten im neuen Online-Archiv Zwangsarbeit 1939-1945 aufbereitet wurden.

Mit einer Präsentation im Deutschen Historischen Museum (DHM) in Berlin wurde das Portal der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Vorerst richtet sich das Projekt an ein Fachpublikum und will die wissenschaftliche Erschließung des gesammelten Materials ermöglichen. Der Bestand lässt sich systematisch nach Nationalität oder Einsatzbereich der Betroffenen durchsuchen. Im Zuge fortschreitender Aufbereitung und Erschließung wird es auch für Lehrer, Schüler und andere Interessierte möglich sein, die Seite zu nutzen.

Bewusst wird ein biografischer Ansatz verfolgt

Nach einer Registrierung erhält man Zugriff auf rund 2.000 Interviewstunden in denen Zeitzeugen vornehmlich aus Polen, der Ukraine und Russland, aber auch aus 23 anderen Ländern über ihre Erinnerungen an die Zeit als Sklavenarbeiter des Dritten Reiches und die Erfahrungen der Nachkriegsgeschichte sprechen. Bewusst setzt die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“, die das Projekt federführend betreut und finanziert, auf einen biografischen Ansatz. Man wolle, so Gertrud Pickhan, Geschichtsprofessorin an der FU Berlin und wissenschaftliche Leiterin des Archives, einen Einblick in die Lebenswirklichkeit dieser Menschen vor, während und nach dem Krieg ermöglichen.

Das gelingt. Eine Polin erzählt die rührende Geschichte ihrer Freundschaft, die am Fließband eines Rüstungsbetriebes entstand. Erzählt, dass sie sich über einen geschenkten Apfel mehr gefreut habe, „als wenn ich im normalen Leben einen Mercedes bekommen würde“. So wird Geschichte zu einem Erlebnis, das wissenschaftliche Fachliteratur nicht bieten kann. Nach einiger Recherche setzt sich ein Bild aus Einzelschicksalen zusammen, das historisches Wissen mit Leben füllt. Die besondere Bedeutung des Online-Archives für die nachfolgenden Generationen ist Felix Kolmer deshalb besonders wichtig. Selbst Überlebender und heute Professor in Prag, sprach er bei der Präsentation mehr von der Zukunft, als von dem, was war. Die Menschen zu zeigen, die hinter den historischen Fakten stehen, ihre ganz eigenen Lebensgeschichten und unterschiedlichen Erinnerungen zu dokumentieren, verleihe diesem Projekt besondere Bedeutung. Damit verbindet sich der bildungspolitische Ansatz des Archives. Mit didaktisch aufbereitetem Material sollen vor allem Schulen dazu gebracht werden, aus der Sammlung Nutzen zu ziehen.

Durch die Geschichte(n) klicken

Die Interviews auf der Internetseite sind ergänzt durch Kurzbiografien der Personen und weitere Dokumente. Meist finden sich historische und aktuelle Fotos oder Scans von Dokumenten und Ausweisen. Diese Vernetzung der Informationen und Datensätze ist das eigentliche Potential des Archives. Sie macht es möglich, sich durch die Geschichten zu klicken und ein umfassendes Bild zu gewinnen. Nachdem die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter – lange Zeit kaum beachtet – in den späten neunziger Jahren finanzielle Entschädigungen bekamen, stellt das Online-Archiv „Zwangsarbeit 1939-1945“ somit einen weiteren Meilenstein der Aufarbeitung dieses Teils der Geschichte dar.

Die Arbeit ist bei weitem nicht abgeschlossen. Zwar liegen die meisten Ton- und Videodokumente auch als Text in den Originalsprachen vor, Übersetzungen ins Deutsche sind allerdings erst für ein Viertel der Interviews verfügbar. Übersetzungen ins Englische sind vorerst nur geplant. Die erwünschte internationale Resonanz dürfte das erschweren. Die volle Verfügbarkeit im Internet erleichtert es vor allem Studierenden mit begrenzten Zeitbudgets, aber auch der weltweiten Forschergemeinde, an bisher schwer zugängliches Material für ihre Arbeit heranzukommen. Wünschenswert wäre eine fundierte Kommentierung des Archivmaterials. Bei Interviews, die sechzig Jahre nach dem fraglichen Zeitraum gemacht wurden, ist kaum mehr abzusehen, inwieweit die subjektiven Erinnerungen mit der überprüfbaren Realgeschichte übereinstimmen. Geschichte wird hier eher als „Summe von Geschichten“ fassbar, wie Dieter Vorsteher, Leiter der Sammlung des DHM, betont. In der Dauerausstellung des Museums findet sich ein weiteres Ergebnis des Zeitzeugenprojektes. Besucher können sich an einer Multimedia-Station über zwölf Überlebende informieren, die exemplarisch stehen für ihre Millionen Leidensgenossen.

Das Online-Archiv „Zwangsarbeit 1939-1945“ schafft es, die Geschichte mit einer Vielzahl von Gesichtern zu füllen. Gesichtern, wie dem von Liliana S.. Ihre Lebensgeschichte kann eine Fundgrube sein für die Beschäftigung mit der Vergangenheit. Heute und vor allem morgen.

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