Auf dem Kirchbergplateau über den Bergen Luxemburgs entscheiden 25 Richterinnen und Richter aus allen Ländern der erweiterten Europäischen Union über die Auslegung der Europäischen Verträge und weiterer EU-Verordnungen. Der 1957 gegründete Europäische Gerichtshof (EuGH) ist eine Mischung aus europäischem Verfassungsgericht, Arbeitsgericht für die Angestellten des öffentlichen Dienstes der Europäischen Union, Rechtsmittelgericht gegen Bußgeldentscheidungen der Kommission und vieles mehr.
Mit ihrer Auslegung des europäischen Rechts wirken die Europarichter bis tief in die nationale Wirklichkeit. Jedem Fußballfan sind die Konsequenzen des "Bosman-Urteils" von 1995 bekannt, das die Begrenzung auf maximal drei ausländische Spieler pro Mannschaft als europarechtswidrig brandmarkte. Seither kann die Bundesliga international beliebig viele Spieler einkaufen, lediglich der DFB (Deutscher Fußballbund) ist national verpflichtet. Auch völlige Tabus wurden und werden durch die europäische Rechtsprechung des EuGH gebrochen, in Deutschland war dies beispielhaft an der Rechtsprechung zur Gleichberechtigung und dem Dienst an der Waffe zu beobachten. Allein durch ein Urteil des EuGH im Jahr 2000 konnte die deutsche Klägerin Tanja Kreil durchsetzen, dass Frauen in der Bundesrepublik nunmehr auch den Dienst an der Waffe verrichten können - trotz gegenteiliger Bestimmung des deutschen Grundgesetzes.
Privatpersonen können sich als Kläger direkt an das "Gericht erster Instanz" beim Europäischen Gerichtshof wenden, wenn sie durch einen Beschluss eines EU-Organs in eigenen Rechten betroffen sind. Dieses eigenständige Gericht wurde 1989 gegründet, um den eigentlichen EuGH zu entlasten. Häufig nehmen vor dem Gericht erster Instanz Bauern ihr Recht auf gerichtliche Kontrolle wahr, die durch Subventionsentscheidungen der EU direkte Auswirkungen auf ihr Portemonnaie spüren. Auch eine Firma wie Microsoft ging hier gegen eine Bußgeldentscheidung der Europäischen Kommission wegen Wettbewerbsverletzungen in Höhe von rund 500 Millionen Euro vor - jedoch ohne Erfolg. Der VW-Konzern hingegen war vor zwei Jahren vor dem Gericht erster Instanz siegreich und konnte eine Strafzahlung von knapp 31 Millionen Euro wegen Marktabschottung verhindern. Derzeit wird dieses Urteil vom Europäischen Gerichtshof überprüft. Die Wolfsburger konnten jedoch Ende November aufatmen, als der zuständige Generalanwalt auf erneuten Freispruch plädierte. Mit einer Entscheidung der Europarichter ist in den nächsten Monaten zu rechnen.
Die Generalanwälte, eine im deutschen Recht nicht bekannte quasi-richterliche Position, bereiten die Entscheidungen des Gerichtshofs mit ihren ausführlich begründeten Schlussplädoyers vor und weisen meist den Weg, den die 25 Richter des Gerichtshofs in ihren Urteilen gehen werden. Die Aufgaben der derzeit acht Generalanwälte werden durch die europäischen Reformen und den Verfassungsprozess mehr und mehr eingeschränkt.
Der Europäische Gerichtshof entscheidet zumeist aufgrund der Vorlage eines nationalen Gerichts, das seine Entscheidung von einer bestimmten Auslegung des europäischen Rechts abhängig sieht. So hatte im Kreil-Verfahren das Verwaltungsgericht Hannover nach Luxemburg die Frage gerichtet, ob Art. 12 a des Grundgesetzes, der Wehr- und Zivildienst regelt, mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sei und hatte von dort als Antwort bekommen, dass der vollständige Ausschluss der Frauen vom Dienst mit der Waffe der Gleichbehandlungsrichtlinie der Europäischen Gemeinschaften widerspräche.
Eine weitere bekannte Vorlagefrage, die der Gerichtshof mit immensen Auswirkungen auf das nationale Recht in den Mitgliedsstaaten und deren Budgets beantwortete, bezog sich auf die Bereitschaftsregelungen der Klinikärzte und deren Vereinbarkeit mit der Arbeitszeitrichtlinie der Europäischen Union. Die Arbeitszeitrichtlinie der EU sieht vor, Bereitschaftsdienste der Ärzte in vollem Umfang als Arbeitszeiten anzuerkennen. Gerade erst hat der Bundesrat entschieden, die vollständige Umsetzung der europäischen Vorgaben - nach bereits zwei Jahren Verzögerung - noch ein weiteres Jahr hinauszuschieben, was den Protest der Ärzte gegen schlechte Arbeitsbedingungen weiter anheizte.
Ähnlich wie das Bundesverfassungsgericht hat der Gerichtshof eine Funktion auch als Schlichter zwischen den verschiedenen Machtzentren der Europäischen Union. Von Anfang an sind dabei die Rechtshüter auf dem Kirchbergplateau selbstbewusst aufgetreten und haben sich als Motor der Integration verstanden. Dies hat sich in eigenen juristischen Methoden und der von ihnen behaupteten und mittlerweile allseits anerkannten Stellung des Europarechts als eigenständigem Rechtsgebiet neben dem Völkerrecht niedergeschlagen. Die Zahl der Streitigkeiten mit zuletzt um die 1.000 pro Jahr zeigt deutlich, dass sich die Europäische Gerichtsbarkeit zu einer wichtigen Institution im europäischen Gefüge entwickelt hat. Der auf Eis gelegte Entwurf der Europäischen Verfassung stellt für den Gerichtshof eine Grundlage dar, um die verbraucherschützenden Ansätze, für die er bekannt ist, zu verwirklichen.
Im Bereich Verbraucherschutz machte der Gerichtshof im Oktober 2005 Schlagzeilen mit seiner Entscheidung zu Schrottimmobilienverträgen. Bei diesen kombinierten Immobilienerwerbs- und Darlehensverträgen waren zahlreiche Verbraucher an der Haustür mit wahnwitzigen Renditeversprechungen zum Vertragsabschluss gelockt worden, ohne dass sie ordnungsgemäß und den strengen europäischen Vorschriften entsprechend über ihr Widerrufsrecht belehrt worden wären. Mit seinem Urteil ging der Europäische Gerichtshof erheblich weiter als der deutsche Bundesgerichtshof. Der hatte die Beweislast für die Frage, ob die beteiligte finanzierende Bank über das Verhalten der eingesetzten Vermittler an der Haustür informiert war, stets beim Verbraucher gesehen. Nach dem Urteil des EuGH dürfen Verbraucher nicht auf dem Schaden sitzen bleiben, falls sie nicht korrekt belehrt worden sind, die Geldinstitute und Bausparkassen müssen dann das Risiko tragen.
Der vor kurzem in die Medien gekommene Fall betrifft Arbeitnehmer über 52 Jahre. Sie sollten durch das Hartz-I-Gesetz ohne Grund und Zeitbeschränkung befristet eingestellt werden können. Doch dies verstößt gegen den Gleichheitsgrundsatz, entschied der Europäische Gerichtshof. Das Hartz-Gesetz muss nun in diesem Punkt nachgebessert werden.
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