Halb hier, halb da

Nachwendekind Unsere Autorin ist 1990 geboren und fühlt sich ostdeutsch. Dabei kennt sie die DDR nur aus Erzählungen
Ausgabe 46/2019
Halb hier, halb da

Illustration: Gabor Farkasch für der Freitag

Meine Mutter war mit mir schwanger, als die Mauer fiel. Hätte sie gewusst, dass die Wende kommt, hätte sie mich nicht bekommen, hat sie mir einmal erzählt.

Nicht, weil sie sich kein weiteres Kind gewünscht hätte, sondern weil sie damals –wie so viele – in einer Art Schockstarre war. Über Nacht verloren Hunderttausende Menschen ihre Arbeit und ein Stück ihrer Identität; manche ein kleineres, manche ein großes. Es war ein Schnitt, der auch meine Eltern traf, als sie mit Mitte 30 auf dem Höhepunkt ihrer Karriere waren.

Wie sie um Himmels willen arbeiten wolle, mit einem Kleinkind zu Hause, wurde meine Mutter kurz nach der Wiedervereinigung gefragt. Die Firma wurde abgewickelt, sie musste sich neu bewerben. Als „Formgestalterin“ der Kunsthochschule Burg Giebichenstein, in der die ostdeutsche Designer-Elite ausgebildet wurde, war ihr Arbeitsplatz damals sicher. Nicht aber in der Bundesrepublik.

Diplome und Arbeitserfahrungen wurden selten anerkannt, viele Berufe verschwanden. Meine Mutter war eine Frau. Mit Kind. Und eigentlich überqualifiziert. „Uff, lassen Sie mal.“ Ein Bruch im Leben, im Lebenslauf. Noch einer.

Unter ostdeutschen Bekannten fragt man oft: „Was sind deine Eltern eigentlich?“, und: „Womit verdienen sie heute ihr Geld?“ Auf die Wende folgte meist ein beruflicher Rückschritt. Vor allem Männer mittleren Alters haben oft nicht mehr richtig in die Spur gefunden. Sie sind heute Einzelkämpfer, sehen sich als „Wendeverlierer“. Frauen aus dem Osten konnten sich besser in die westliche Gesellschaft integrieren, analysiert der Soziologe Steffen Mau. Sie haben sich (häufig im Westen) ein neues Leben aufgebaut.

Das Erbe der Eltern

Hätte es diesen Bruch im Leben meiner Eltern nicht gegeben, würde ich mich heute nicht so ostdeutsch fühlen. Meine Generation, die erste Nachwendegeneration mit ostdeutschen Wurzeln, ist heute um die 30 Jahre alt, und sie ist gar nicht so „wiedervereint“ und „gesamtdeutsch“, wie die meisten vielleicht denken. Gerade, wenn sie die Abwertung ihrer Eltern miterlebt hat.

Immer wieder werde ich gefragt, was ich überhaupt noch mit Ostdeutschland zu tun hätte, ich hätte es schließlich gar nicht mehr miterlebt. Das ist natürlich richtig. Und doch: Nur weil die Mauer fiel, haben sich die Erziehungsweisen der Eltern und das direkte Umfeld noch lange nicht verändert. Unser Zuhause stand plötzlich in einem neuen Land, ohne dass sich jemand bewegt hätte. Wie in einer Zeitkapsel ging das Leben Anfang der 90er Jahre erst mal genauso weiter. Drinnen tickte eine andere Uhr als draußen.

Bei uns herrschte lange ein Lebensstil der Vorwendezeit. Die Bücher, die Möbel, die Werte. Malen lernte ich auf vergilbtem Papier (mit dem Aufdruck „EVP 0,55 M“), das doppelt so alt war wie ich. Ich wuchs in feministischer Selbstverständlichkeit auf, die Rückseite von Teebeutelverpackungen wurde als Einkaufszettel verwendet, Kleidung so lange getragen, bis sie wirklich kaputt war, ständig wurde an Heizöl und Wasser gespart. Das macht einen Unterschied. Meine Mutter hat mir am Frühstückstisch das kapitalistische Prinzip der Monopolbildung mit Milchkrügen erklärt. Sie setzte den großen Krug auf den kleinen. Weg war der kleine.

Westdeutschland tröpfelte langsam von außen in den Alltag ein. Für mich war es ein Gefühl zwischen Capri-Sonne und dem König der Löwen; etwas greller, aufregender und mit mehr Zucker. Zwitterhaft trage ich bis heute beide Seiten, beide Welten in mir: die äußere Westwelt und die innere Ostwelt. Immer schlage ich mir irgendwo zwischen den Stühlen das Schienbein auf, fühle mich zerrissen, wie viele. Bei großen Familienfeiern bin ich als Jüngste zwangsläufig der „Wessi“, klar. Aha, roter Nagellack! Doch die „Wessis“ selber sehen das ganz anders. Noch nie habe ich mich so ostdeutsch gefühlt wie unter Kollegen in Westdeutschland.

Kleine Sticheleien zu meiner Herkunft gehörten dazu, als wäre sie eine Schwäche, etwas Exotisches. Beim Mittagessen in der Kantine habe ich einmal eine Spargelcremesuppe nach dem Hauptgericht gegessen. Sie war sehr heiß, ich ließ sie abkühlen. Daraufhin fragte mich ein Kollege, ob wir denn im Osten nicht wüssten, dass man die Suppe vor dem Hauptgang zu essen habe. Ich wurde ostdeutsch in Westdeutschland, und dieses Gefühl ist kein Einzelfall (siehe Johannes Nichelmann, Freitag 37/2019).

Die Wendegeneration aus den neuen Bundesländern fühlt sich „ostdeutsch“; die vergleichbare Generation aus Westdeutschland hingegen ganz einfach „deutsch“. Für den Soziologen Daniel Kubiak hat das einen klaren Grund: „Westdeutsch-Sein“ entspreche so sehr der Norm, dem Normalen, dem „Deutschen“, dass „Ostdeutsch-Sein“ als Abweichung, als „anders“, als unnormal empfunden – und dann oft abgewertet – werde.

Selbst diese Debatte um das deutsch-deutsche Othering ist eingefärbt: Dass die Westdeutschen sich nicht westdeutsch fühlen, wird nur von Ostdeutschen thematisiert. Kein Münchner, der um 1989 geboren wurde, würde sich jemals als „Wendekind“ verstehen. Wer in der vermeintlichen Norm lebt, ist oft blind für seine eigene Position. Ostdeutsch-Sein ist wie die Dauerwelle, die doch bitte endlich aus der Geschichte herauswachsen soll, hat Alexander Osang vor Kurzem in einem Spiegel-Essay geschrieben. Aber wie soll das gehen?

Für immer Sondersendung

Deutschlands Nachkriegsgeschichte wird zu oft stillschweigend mit westdeutscher Historie gleichgesetzt. Schlager-Hitparaden spielen zwar Dieter Thomas Heck, aber nicht Silly, die spielt man zur Sondersendung Ost. Im Grunde ist die DDR eine andauernde Sondersendung. Der Osten kommt im deutschen Narrativ nur als Spezialfall vor. Damit tut man Menschen nicht nur unrecht, man verfestigt auch auf eigentümliche Weise ihre Identität. Wer von anderen Gruppen kategorisiert oder abgewertet wird, entdeckt erst, was die eigene Gruppe ausmacht. Wer im Ausland ist, kennt das: Plötzlich gilt man als „typisch deutsch“, weil man pünktlich zum Termin erscheint.

Die Urteile der anderen bilden dann den Hintergrund, vor dem sich das Eigene erst abzeichnet. Der Migrationsforscherin Naika Foroutan zufolge fühlen sich Ostdeutsche heute ähnlich benachteiligt wie Migranten. Beide Gruppen haben etwas durchlebt, das man „Migrationserfahrung“ nennen kann. Sie vereint oft die Sehnsucht nach der verlorenen Heimat, eine Tendenz zur Verklärung der eigenen Vergangenheit und das Gefühl, nicht so richtig dazuzugehören. Beide Gruppen erleben Abwertung.

Nicht nur Einwanderer-, sondern auch Wendekinder sind in einem ähnlichen Paradox aufgewachsen: Einerseits möchte man aus Loyalität das Lebensmodell der Eltern weitertragen, andererseits versucht man sich im „neuen Land“ an die Regeln anzupassen. Diese Regeln, zwar keine elementaren, aber die feinen Unterschiede, musste man sich allein erarbeiten – die Eltern konnten sie einem ja nicht erklären.

Manche Codes sind mir bis heute fremd. Selbstdarstellung etwa war in meiner Familie eher verpönt; bei meinen westdeutschen Freunden gehört sie zum kulturellen Kapital. Teil des westdeutschen Habitus ist auch, zu wissen, dass man manchmal etwas rücksichtsloser sein muss oder auch mal etwas hingebogen wird. Der eigene Lebenslauf beim Vorstellungsgespräch zum Beispiel, nur ein kleines, entscheidendes bisschen. Junge Westdeutsche können bis heute im Studium und im Beruf risikobereiter sein, weil sie weniger existenzielle Bedrohungen kennen. Es existieren über die Eltern Verbindungen in die Arbeitswelt und in vielen Fällen die Gewissheit, eines Tages etwas zu erben. Bei Ostdeutschen ist es häufiger „randgenäht“.

Auf Familienfeiern spüre ich oft eine unterschwellige Wut. Über Ungerechtigkeiten, wie die Abwicklungen durch die Treuhand, oder darüber, als Bürger zweiter Klasse heruntergestuft (und dann noch als rückwärtsgewandt bezeichnet) zu werden.

Bis heute sind Ostdeutsche in einer gesellschaftlichen Minderheitenposition. Man findet sie kaum in Führungspositionen, sie verdienen weniger, haben deutlich weniger Vermögen, dafür aber höhere Arbeitszeiten als Westdeutsche.

80 Prozent der ehemaligen DDR-Betriebe wurden nach der Wende von Firmen aus der Bundesrepublik übernommen, während westdeutsche Führungskräfte die schönsten Brandenburger Seegrundstücke gekauft haben. In der Familie fallen häufig diese Begriffe: der „Ausverkauf“ des Ostens, die „verlorene Schlacht“ und „Sie haben uns den Stolz genommen“. Man hätte sich gar nicht „wiedervereinigt“, sondern den Osten schlichtweg angeschlossen, ihn einfach übernommen. Wie der große Milchkrug über den kleinen gestülpt wurde. Übrigens wählt niemand in meiner Familie AfD.

Es war ein warmer Tag im Juli, als mein Vater seinen Arbeitsplatz als Ingenieur verlor. Er hatte es längst kommen sehen. Das ehemalige Kombinat wurde um Millionen betrogen – von einem Kunden aus dem Westen, der eine Luxusjacht in Auftrag gab. Und dann mitnahm, ohne sie zu bezahlen. Der Betrieb wurde abgewickelt. Mein Vater wollte nicht noch einmal umsatteln.

Juliane Marie Schreiber ist Politologin und freie Journalistin in Berlin

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