Essen unter Fremden

Dinnersurfing Neue Leute kennenlernen ist im Grunde immer gut. Aber drei Gänge, drei Wohnungen, 26 Unbekannte, und eine tickende Uhr – ist da mehr als Small Talk drin?

Ein paar Unbekannte kommen zum Abendessen vorbei. So lautete der Plan meiner Mitbewohnerin für den Samstagabend. „Und danach kochen andere Fremde für uns.“ Vorspeise, Hauptgericht, Dessert. Drei Wohnungen, drei unterschiedliche Gastgeber. Dinnersurfing nennt sich das und wird von Menschen veranstaltet, die auch Couchsurfing organisieren, also das Schlafen bei fremden Menschen. Ich willigte ein. Hatte ich mich nicht letztens erst darüber mokiert, dass man immer die gleichen Gespräche führt, immer wieder dieselben Gesichter sieht? Wieso also nicht einen Abend mit mir völlig Unbekannten verbringen?

Wir sind für die Vorspeise zuständig, wie ein detaillierter Organisationsplan verrät, der an alle 26 Teilnehmer verschickt wird. Pro Gang sind etwa anderthalb Stunden angesetzt, wenn man eine halbe Stunde pro Weg einplant. Unsere Gastgeber sind in halb Leipzig verstreut, in Stadtteilen, die wir selten besuchen. Farnaz, Alireza und Nadine heißen unsere ersten Gäste. Auf ihren Profilfotos sehen sie jung aus, unter Hobbys hat Nadine „Books, movies, sports“ eingetragen. Erste Zweifel am Unterhaltungswert des Abends kommen auf.

Neue Leute treffen

Wir entschieden uns für Mulligatawny-Suppe als unseren Beitrag für den Dinner-Abend, obwohl wir sie in unserem Leben noch nie gegessen oder gekocht haben. Aber diese indische Suppe ist der erste Gang bei „Dinner for One“. Es geht hier schließlich auch um Entertainment. Punkt sechs klingelt es an der Tür. Alireza trifft ein – ohne Freund, der habe es nun doch nicht geschafft. Wir tauschen Kurzinfos aus: Sie studiert in Dessau und ist 30 Jahre alt. Dann klingelt Nadine.

Wir setzen uns an den großen Küchentisch und fangen gleich an zu essen. Der Zeitplan! Die Suppe schmeckt überraschend gut, am Wein nippen die Gäste nur höflich. Nadine erzählt beim Löffeln, dass sie gebürtige Leipzigerin ist. Also kein Ich-bin-neu-in-der-Stadt-und-suche-Anschluss-Phänomen. Was macht sie dann hier? Hat sie keine Freunde, die mit ihr essen wollen? „Doch, aber ich wollte mal andere Leute kennenlernen“, sagt die 24-Jährige, die vor Kurzem bei ihren Eltern ausgezogen ist. Neue Leute treffen – ein Wunsch, den offenbar viele Menschen verspüren.

Denn das Konzept des Mit-Fremden-Essens kommt nicht nur bei Leipziger Couchsurfern an. Seit 2010 gibt es die Mitesszentrale, bei der man sich ähnlich der Mitfahrzentrale zum Essen statt zum Fahren verabredet. Auch die Website Jumpingdinner betreibt eine öffentlich erfolgreiche Dinnerorganisation, schon der Name verheißt, dass man hier nicht zur Ruhe kommen kann. Es ist eine Mischung aus Blinddate und Promidinner für Nicht-Promis, bei der die Anmeldung 26 Euro kostet, man bekommt aber immerhin einen Sekt auf der Abschlussparty. Hinterher schreiben Teilnehmer auf die Homepage, sie hätten eine „super Frau“ kennengelernt.

In unserem Fall sind nur Frauen gekommen, die drei Jungs, die sich angemeldet hatten, haben alle spontan abgesagt. „Das ist eher Zufall“, sagt Christiane, die die Organisation des Abends übernommen hat. Sie war im vergangenen Jahr schon einmal dabei und nahm sich der Sache an.

So wie sie haben die Menschen, die hier mitmachen, vor allem Lust auf neue Bekanntschaften. Doch die Stimmung ist bei jedem Gang etwas verkrampft. Als säßen alle, wahllos zusammengewürfelt, bei einem Vorstellungsgespräch. Begegnungen, wie sie in keiner Kneipe zustande kämen.

Alireza, zufällig auch unsere Gastgeberin beim zweiten Gang, hat für uns und zwei Zahnarztstudentinnen in ihrer kleinen Kellerwohnung eine iranische Spezialität aus Spinat, Rindfleisch und angebackenem Reis vorgekocht, deren Namen ich sofort wieder vergesse, die aber köstlich schmeckt. Nur: Warum steuert jedes Gespräch darauf zu, wie lecker alles war? Ist es wirklich nur das Essen, was uns hier verbindet?

Ein bisschen Lebenshilfe

Jeder erzählt ein bisschen, was er sonst so macht, alle lächeln freundlich und fragen höflich, wo denn die Toilette sei. Sicher hat Alireza eine spannende Lebensgeschichte, die sie uns mit dem Essen ihrer Heimat nahebringen will, aber außer über ein paar Stationen („Wo hast du denn so gelebt?“) sprechen wir nicht weiter darüber. Wir können sie immerhin davon überzeugen, dass sie für die Wohnung viel zu viel Miete zahlt, und lieber umziehen sollte. Ein bisschen Lebenshilfe geleistet.

Die scheint auch Lydia, die dritte Gastgeberin, zu brauchen. Sie lebt in einer riesengroßen Altbauwohnung, blank poliert, wie aus einem Wohnhauskatalog. Die Sofakissen tragen dasselbe Muster wie das Bild an der Wand. „Ich koche halt gerne“, antwortet sie auf die Frage, was sie an dieser Veranstaltung reize, und erläutert dann ausführlich, wie kompliziert es sei, richtige Mousse au Chocolat zuzubereiten. Danach redet sie über Dinge, die man sonst noch mal machen müsste. Ein Buch schreiben, doch was anderes studieren, ins Ausland gehen. Es klingt nicht so, als würde sie das je umsetzen, so schnell zählt sie Gründe auf, die dagegen sprechen. Sie holt süßen asiatischen Pflaumenwein, den einzigen Alkohol, den sie hat. Als wir ins Reden kommen, müssen wir schon weiter. Zum Treffen aller in einer zentrumsnahen Kneipe. Dort berichtet jeder noch mal ausführlich, was es bei ihm zu essen gab.

Nach sechs Stunden Dinnersurfing bin ich satt. Von Small Talks, den immer gleichen Dialogen mit neuen fremden Leuten. Es treffen Menschen aufeinander, die sich nach Unterhaltung sehnen. Aber sie brauchen einen Zeitplan dafür. Die Hoffnung, sich durch ein gemeinsames Essen näherzukommen, geht nicht auf. Dann doch lieber eine Pizza allein vorm Fernseher.

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