Falltür Völkerrecht

Ungarn Vor allem die Geschehnisse während des Aufstandes von 1956 finden ein gerichtliches Nachspiel - doch tragen die Strafverfahren eher symbolische Züge

Russland kommt bisher ohne Strafprozesse gegen Funktionsträger seiner bis 1990/91 währenden sozialistischen Ordnung aus - so der Grundtenor des jüngsten Artikels unserer Serie über die entsprechende Rechtspraxis osteuropäischer Transformationsstaaten (s. Freitag, 18. 5. 2001). Die Schlussstrich-Mentalität der heutigen - neuen wie alten - russischen Eliten wird zwar von diversen Menschenrechtsverbänden heftig kritisiert, doch gibt es nach wie vor nur Gesetze zur Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer von Repressalien. Eine Strafverfolgung zu Tatbeständen wie Rechtsbeugung, Körperverletzung, Wahlfälschung oder Wirtschaftskriminalität, die nach dem russischen Strafgesetzbuch möglich wäre, findet nicht statt. Ein krasser Unterschied zu Deutschland (s. Freitag, 20./ 27.4.2001), ein erkennbarer Unterschied zur Praxis in Polen (s. Freitag, 11. 5. 2001), ein gewisser Unterschied zu Ungarn, dem die jetzige Folge gewidmet ist.

Nach dem Umbruch von 1989 konzentrierte sich für Ungarn strafrechtliche Vergangenheitsbewältigung auf die dramatischen Ereignisse von 1956. Am 23.Oktober dieses Jahres hatte der Staatssicherheitsdienst in Budapest mit Gewalt eine von Studenten, Arbeitern, Soldaten und Polizisten getragene Demonstration für einen Wandel des politischen Lebens unterbunden und in die Menge geschossen. Aus dem Aufruhr in der Hauptstadt wurde danach ein Aufstand, der bald das ganze Land erfasste. In den folgenden Tagen kam es zu schweren Kämpfen zwischen der ungarischen Armee - unterstützt durch sowjetische Truppen - und der Opposition, es gab auf beiden Seiten Tote und Verletzte. Zu Lebzeiten der Ungarischen Volksrepublik (UVR) blieben diese Geschehnisse ohne juristische Nachspiele, sieht man davon ab, dass der im Herbst 1956 regierende Premier Imre Nagy nach einem Geheimprozess zum Tode verurteilt und im Juni 1958 hingerichtet wurde.

Rückwirkungsverbot und Verjährung - das Verfassungsgericht "öffnet" Landesrecht

Ende 1989 stellte sich in Ungarn die Frage, ob man nun noch bestrafen konnte - oder besser wollte. Dabei stand bei der ins Auge gefassten Aufarbeitung jüngster Geschichte von vornherein nicht das Strafrecht im Vordergrund. Wichtiger erschienen Entschädigung und Rehabilitierung - bezogen auf die Volkserhebung von 1956 interessierte vor allem Aufklärung. Schon Anfang 1989, nach zur Regierungszeit der USAP (s. Übersicht) waren die 56er Ereignisse neu bewertet worden. Die Stigmatisierung als "Konterrevolution" entfiel, statt dessen war nun von einem "Volksaufstand" die Rede. Imre Nagy wurde politisch und juristisch rehabilitiert. Der Ministerrat setzte eine Historische Kommission ein, die zwischen 1949 und 1956 geschehenes Unrecht zu untersuchen hatte. Die Bestrafung der Verantwortlichen von 1956 erschien nicht die Hauptsache zu sein, wobei der politische Wille zur Strafverfolgung durchaus vorhanden war, wie verschiedene Gesetzesinitiativen des Parlaments nach der Regierungsübernahme durch den konservativen Premier József Antall (April 1990) erkennen ließen.

Juristische Hürden waren dabei die Verjährung und das Rückwirkungsverbot. Letzteres - verankert in der Verfassung Ungarns - besagt: Eine Tat darf nur dann bestraft werden, wenn sie zum Zeitpunkt der Handlung nach ungarischem Recht strafbar war. Ging es mit dem Blick auf 1956 um Körperverletzungs- und Tötungsdelikte, so standen diese Straftatbestände nach dem zu diesem Zeitpunkt geltenden Strafgesetzbuch selbstverständlich unter Strafe. Der Schwerpunkt der juristischen Debatte ab 1989/90 verlagerte sich daher besonders auf die Frage nach der Verjährung. Das ungarische Strafrecht legte fest, dass Verbrechen nach spätestens 15 Jahren verjähren. Das hieß, danach waren auch schwerste Straftaten wie vorsätzliche Tötungen während der Volkserhebung von 1956 bereits 1971 verjährt. Es wurde aus diesem Grunde ein Weg gesucht, um trotz Verjährung verfolgen zu können. Aus dem ungarischen Rechtsverständnis heraus war dies schwierig, definiert es doch Verjährung so, dass verjährte Taten nicht mehr als strafbar anzusehen sind. Ein Unterschied zur deutschen Rechtsauffassung, die eine verjährte Tat weiterhin als strafbar und Verjährung lediglich als Hindernis für die Strafverfolgung betrachtet.

Vor diesem juristischen Hintergrund verabschiedete das ungarische Parlament zwischen 1991-1993 drei Gesetze, um die Verjährung für Taten zwischen 1945 und 1989 auszuhebeln und scheiterte ein ums andere Mal. Die Gesetze wurden vom Verfassungsgericht für zumindest "teilweise verfassungswidrig" und als Verstoß gegen das in Artikel 57 Abs. 4 der Verfassung festgelegte Rückwirkungsverbot erklärt. Dann jedoch verließ das höchste Gericht des Landes den Boden des nationalen Rechts und bezog sich auf die von Ungarn ratifizierte New Yorker Konvention über den Ausschluss der Verjährung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit von 1968 (in Verbindung mit den Genfer Abkommen von 1946) und erinnerte daran, dass Paragraph 7 Absatz 1 der Landesverfassung ungarisches Recht für das Völkerrecht "öffnet". Damit - so das Verfassungsgericht - seien völkerrechtliche Verträge automatisch Bestandteil des ungarischen Rechts. Fazit: Eine Handlung, die in diesen Verträgen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen qualifiziert ist und deshalb aufgrund einer völkerrechtlichen Norm nicht verjähren kann, gilt dann auch nach ungarischem Recht als unverjährbar. Im Oktober 1993 erließ das Parlament daraufhin ein Gesetz, das eine Strafbarkeit der Taten von 1956 unter ausdrücklichem Bezug auf das Völkerrecht vorsieht.

Bei all diesen Entscheidungen wurde deutlich, dass der juristische Weg eigentlich erst der zweite Schritt war. Am Anfang stand der politische Wille, der nach einem adäquaten juristischen Weg suchen ließ. Ungarn hat damit nicht zuletzt aktuelle Entwicklungen des Völkerstrafrechts reflektiert und sich eine Rechtsauffassung zu eigen gemacht, wonach unerträgliche Menschenrechtsverstöße auf internationaler Ebene strafbar sein müssen. Dem Völkerrecht kommt dabei die Funktion zu, Menschenrechte zu schützen - auch oder gerade dann, wenn das nationale Recht dazu nicht in der Lage ist. Zweifelsfrei war die hier nur grob skizzierte Debatte in Ungarn auch von der Entschlossenheit grundiert, das Vertrauen in einen entstehenden Rechtsstaat nicht durch juristisch inkonsequente Lösungen zu erschüttern.

Aus der Geschichte der Ungarischen Volksrepublik

1945 - 1949 Nach der Befreiung durch die sowjetische Armee übernimmt die KP (sie nennt sich ab 1948 nach Vereinigung mit der ungarischen Sozialdemokratie Partei der Ungarischen Werktätigen/PdUW) die politische Führung des Landes. Die im August 1949 verabschiedete Verfassung definiert den Staat als Volksrepublik und schreibt die sozialistische Option fest.

1949 - 1952 Mit dem Sturz von Innenminister Laszlo Rajk - er war während des II. Weltkrieges Führer der illegalen KP - beginnen auch in Ungarn stalinistische Säuberungen. Rajk und andere werden hingerichtet. Der spätere Parteichef János Kádár erhält 1951 nach einem Geheimprozess eine lebenslängliche Zuchthausstrafe. Periode der Diktatur von Mátyás Rakosi.

1956 Sturz Rakosis - der Reformkommunist Imre Nagy übernimmt im Oktober die Regierung und leitet eine Liberalisierung ein. Die Konfrontation um den künftigen Kurs des Landes münden in bürgerkriegsähnliche Zustände. Auf Ersuchen einer von Kádár gebildeten Gegenregierung intervenieren sowjetische Truppen und schlagen den Aufstand nieder.

1956 - 1961 Kádár übernimmt die Führung der inzwischen in Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei (USAP) umbenannten Staatspartei. Mit einer Patriotischen Volksfront gelingt eine gewissen Aussöhnung zwischen Kommunisten und Nichtkommunisten, auch die wirtschaftliche Situation verbessert sich.

1968 - 1980/81 Kádár entlässt die Betriebe mit der Politik des Neuen Ökonomischen Mechanismus in eine begrenzte Selbstständigkeit. Zugleich öffnet er das Land stärker zum Westen. Bei vorsichtigen Reformen wird stets eine enge Abstimmung mit Moskau gesucht - man spricht vom Goulasch-Kommunismus.

1982 - 1988 Mit dem USAP-Parteitag im März 1985 beginnt das Ende der Ära Kádár. Sein reformorientierter Kurs erscheint angesichts der sich in der UdSSR unter Gorbatschow vollziehenden Veränderungen als "zu inkonsequent" und "zu wenig innovativ". Mit der Wahl von Károly Grósz zum neuen Premier setzen sich die Reformer durch. Eine Parteikonferenz im Mai 1988 orientiert auf einen Kurs des politischen Pluralismus und schiebt Kádár auf den Posten eines "Ehrenvorsitzenden" ab.

1989 - 1990 Ein Parteikongress im Oktober ´89 beschließt die Unbenennung in Ungarische Sozialistische Partei (USP) und gibt "Grünes Licht" für freie Wahlen, die im Folgejahr zum Sieg des bürgerlichen Lagers unter Führung des Demokratischen Forums (MDF) führen. Zuvor hatte sich die Regierung im September 1989 entschlossen, die Grenze nach Österreich für DDR-Flüchtlinge zu öffnen.

Verfolgung und Bestrafung - Revanchegefühle sind selten

Die Tatsache allein, dass ein Verfassungsgericht Möglichkeiten der Strafverfolgung eröffnete, sagt indes noch nichts darüber aus, ob oder inwiefern auch tatsächlich verfolgt und bestraft wurde. Betrachtet man die Zahl von Verurteilungen im Zusammenhang mit 1956, so kann man eher von symbolischen Vorgängen sprechen. Insgesamt wurden etwa 40 Strafverfahren eingeleitet, wobei die meisten bald aus Mangel an Beweisen eingestellt werden mussten, da sich im Nachhinein nicht mehr rekonstruieren ließ, was genau passiert war. Nur in sieben Fällen kam es zu Anklageerhebungen gegen einige der Beteiligten. Oft war in den Verfahren dann allerdings zweifelhaft, ob überhaupt die vom Völkerrecht beschriebenen Tatbestände gegeben waren. Schließlich wurden nur einige wenige Verantwortliche rechtskräftig zu Freiheitsstrafen und einem mehrjährigen Verbot öffentlicher Betätigung verurteilt.

Die Vergangenheitspolitik eines Landes ist nun einmal nicht aus ihren nationalen Kontexten zu lösen. Der Charakter des untergegangenen Regimes, die Art und Weise des Umbruchs und die historische, politische und kulturelle Lage des Landes prägten maßgeblich den eingeschlagenen Weg. In Ungarn gab es schon in den achtziger Jahren Liberalisierungstendenzen und eine erhöhte Sensibilität für die Menschenrechte. So wurde 1987 ein "Grundrecht auf Auslandsreisen" normiert, das unter bestimmten Voraussetzungen beansprucht werden konnte. Die Wahlrechtsreform 1983 geriet zu einem ersten Votum für den Pluralismus und stärkte das Parlament. Das 1989 errichtete Verfassungsgericht hatte seit 1984 einen "Verfassungsrat" als Vorläufer, wodurch das bis dahin bestehende staatsanwaltliche Monopol der Gesetzlichkeitskontrolle durchbrochen wurde. Bereits 1988 begannen behutsame Privatisierungen. Insofern vollzog sich der Systemwechsel von 1989 nicht als jäher Bruch, sondern eher als moderater Übergang, der in manchen Entscheidungen der Vorjahre bereits angelegt war. Dies erklärt wohl auch, weshalb die strafrechtliche Aufarbeitung von Vergangenheit in der Öffentlichkeit eher gelassen reflektiert wurde. Man brauchte keine Abrechnung mit dem alten Regime.

Die Autorin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg.

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