Die Karikatur von Protest

Hygienedemonstrationen Die Proteste gegen Corona-Maßnahmen sind ziel- und orientierungslos. Darin bestehen ihr Erfolg und ihre Gefährlichkeit. Eine Erklärung am Beispiel der Proteste in Halle

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Der Protest ist eine Farce und deshalb so resonanzstark
Der Protest ist eine Farce und deshalb so resonanzstark

Foto: Sean Gallup/Getty Images

Neulich lag im Briefkasten ein Flyer für die auch in Halle (Saale), wo ich lebe, stattfindenden samstäglichen Demonstrationen gegen die Einschränkungen im Zuge der Corona-Maßnahmen von Bundes- und Landespolitik. Oder geht es darum? Nein, gleich zuallererst lese ich: Es geht um demokratischen Widerstand. Von diesem Aufruf verwirrt, war es an der Zeit, sich das medial immer stärker skandalisierte Phänomen einmal selbst genauer anzuschauen. Ergebnis ist dieser Text, der eine Einordnung des Phänomens Hygienedemonstrationen darstellt, exemplarisch veranschaulicht anhand des erwähnten Flyers und des Protestgeschehens in Halle und seines lautesten, nervigsten und gefährlichsten Protagonisten. Schnell lässt sich verstehen: Der Protest ist eine Farce und deshalb so resonanzstark. Beginnen wir mit einigen kurzen Bemerkungen zum Flyer.

Verändern oder bewahren? Die Offenbarung der Ziel- und Orientierungslosigkeit

Der Flyer stellt allein optisch eine Absurdität dar. Als Hintergrundmotiv sehen wir zwei Hände, deren Zeigefinger sich berühren. Soll es tatsächlich eine Anspielung auf Michelangelos „Erschaffung Adams“ sein? Gott erweckt Adam zum leben. Ordnen wir dieses Motiv in das Protestgeschehen der Hygienedemonstrationen ein, dann erlangt es diese perfide Bedeutung: Die Organisatoren (gottgleich) wecken uns. Allerdings handelt es sich nicht um eine sorgfältig angefertigte Graphik, sowie auch der Rest des Aufrufs eine schlampige, lieblose Auseinandersetzung mit Photoshop verrät. Allerdings: Wenn mich dieser Flyer überzeugt, beim Protestgeschehen vorbeizuschauen, dann hält er auch, was er verspricht, nämlich sehr wenig.

Überschrieben ist der Aufruf mit „Demokratischer Widerstand 2020. Friedlicher Protest für eine Wende 2.0“. Da die Wende 2.0 keine neue Adaption für rechtsradikalen Proteste ist, um eine Parallele des eigenen Vorhabens zur Wiedervereinigung aufzubauen, überrascht es auch an dieser Stelle nicht. Dennoch werden solche Phrasen damit nicht weniger spannend: Einerseits wird suggeriert, es ginge hier darum, ein politisches System zu stürzen – mit friedlichem Protest. Es gebe eine Diktatur zu überwinden. Andererseits erfolgt damit eine positive Bezugnahme auf die Bundesrepublik Deutschland, inklusive des Grundgesetzes, wo doch die BRD generell das Problem darstellt, das System, dass es zu überwinden gilt. Solche Widersprüche ziehen sich durch nahezu jede Äußerung.

Nachfolgend heißt es: „Organisiert von Bürgern, für Bürger“. Lassen wir Genderfragen an dieser Stelle einmal außen vor (hier wird natürlich gezielt nicht gegendert), bleiben immer noch erhebliche Ausschlüsse bestehen, die im Begriff des Bürgers im allgemeinen Sprachgebrauch gerne vergessen werden: Für Bürger heißt nicht für Nicht-Bürger, also nicht für Menschen, die nicht die deutsche Staatsbürgerschaft haben. Soweit, so wenig überraschend. Gemeint ist aber sicher vielmehr der Ausschluss elitärer, verschworener Zirkel. Dass diese ebenfalls den Status von Bürger*innen haben, mag nicht jeder akzeptieren. „Nicht links, nicht rechts sondern gemeinsam...“, heißt es dann. Erhaben über alle politischen Richtungsentscheidungen, man müsse nur gemeinsam handeln. Alle gemeinsam allein gegen den Rest, könnte dort auch stehen. Allerdings heißt das nicht: Rechts und links gemeinsam (der feuchte Traum aller Querfrontdenker*innen). Nein, es bedeutet vor allem Ausschluss. Diese Parole soll bedeuten, man sei frei von politischer Haltung, wenn man am Protest teilnimmt. Man will sich nicht verorten, sondern gegen alles abgrenzen und in dieser Abgrenzung das Gemeinsame finden. Selbstverständlich lockt man damit (vor allem Rechte), aber verlangt Selbstverleugnung. Insgesamt scheint keinerlei politische Selbstverortung erwünscht, obwohl man sich permanent – allein durch Organisation und Teilnahme am Protest – politisch positioniert.

„...für eine echte und ehrliche Demokratie. Schluß mit dieser Demokratie-Simulation!“, heißt es weiter. Demokratie zu simulieren würde bedeuten, Demokratie auszuprobieren; also ist ein Staat, der Demokratie simuliert, eine Demokratie. Das will der Verfasser sicher nicht sagen, jedoch sagt er es. Eine Demokratie-Simulation wäre eine Demokratie und in dem Sinne eine „echte“ Demokratie. Leider erfahren wir nie (auch nicht in den Reden bei den Protesten), was mit echter Demokratie gemeint ist. Es geht tatsächlich nie um Demokratie in dieser Protest-Simulation, die – ja, richtig – eben leider auch Protest ist.

Man sei „für den Erhalt unserer Grundrechte. Schluß mit der Aushöhlung des Grundgesetzes!“ Wir erkennen wieder den Zwiespalt zwischen Umsturz und Erhalt. Ging es eben noch darum, Demokratie zu erkämpfen, geht es nun doch nur wieder ums Bewahren. Erst musste etwas geschaffen werden, jetzt soll lieber etwas bewahrt werden, was angeblich doch noch gar nicht besteht. Es geht um die politische Wende, weg von der BRD, hin zur BRD. Ja, all das passt perfekt in die Ablehnung politischer Positionierung, während man sich politisch positioniert.

Zudem sei man „für einen freien und ehrlichen Diskurs. Schluß mit ‚Neusprech‘ und Schönfärbung!“ Das von Orwell gekaperte Neusprech können wir getrost überspringen, hier wird es zu mühselig. Wir haben verstanden: Irgendwie werden Parallelen zu Diktaturen gezogen, aber irgendwie halt auch nicht konsequent. Freie und ehrliche Diskurse sind der entscheidende Punkt. Der Verfasser entpuppt sich (ausversehen) als Habermasianer, als Anhänger deliberativer Demokratietheorie, der aber keinerlei Diskursverständnis hat. Trotzdem zeigen der Verfasser und die Redner*innen bei den Protesten, was ein freier Diskurs sein kann. Nämlich ein Diskurs, in dem all sie teilnehmen können. Im Internet, auf der Straße. Ein Diskurs, in dem jeder und jede äußern kann, sich nicht äußern zu dürfen, beweist ein hohes Maß an Freiheit. Allerdings schränkt dieser Diskurs die Forderung der Ehrlichkeit dann doch wieder ein.

„...für die Freiheit, anders zu denken. Schluß mit politisch ideologischer Gängelung!“, lesen wir. Ideologie ist das Stichwort. Was ist die Ideologie des Verfassers? Es bleibt schwammig, wie wir sahen. Denn der Flyer, oder der ganze Protest hat nichts. Das einzige, was der Verfasser hat, ist die Freiheit, anders zu denken – wie so viele, nein, wie eben alle. Allerdings wäre ein Verständnis von Ideologie wünschenswert, dann könnte all das ein konsistenteres Profil bekommen. Gegen Ideologie insgesamt zu sein, bedeutet eine Abwendung von allem, von sich selbst. Ideologiefreier Protest setzt sich aus einem unübersichtlichen Spektrum an Ideologien zusammen und verliert sich darin. Dieser Flyer ist eine Farce, er offenbart die Ziel- und Orientierungslosigkeit der ganzen „Bewegung“. Und wem es nicht aufgefallen ist: Es geht in keiner Silbe um Corona oder Maßnahmen zur Eindämmung der Virusausbreitung.

Visionslose Tiraden

Urheber dessen ist offensichtlich der rechtsradikale Querfront-Agitator Sven Liebich, der auch Gegenstand des letzten Verfassungsschutzberichts von Sachsen-Anhalt war. Er verbringt seine Zeit damit, das Internet und den halleschen Marktplatz mit allerlei absurden (Verschwörungs-)Phantasien und Hasstiraden zu beschallen und seine Hetze in seinem Onlineshop zu kapitalisieren, indem er dort T-Shirts und Aufkleber mit „provokativen“ Motiven verkauft. Sein ganzer Aktionismus dient allein Werbezwecken für sich selbst, um ein paar Euro zu verdienen.

Auf dem Marktplatz schreit er die versammelten und irritiert vorbeigehenden Menschen an, dass er Angst habe, seine Meinung zu sagen (leider tut er das nicht nur einmal die Woche). Außerdem lasse er sich nicht den Mund verbieten, man solle mutig sein. Aber man müsse eben auch Angst haben, denn wir lebten doch in einer Diktatur. Immer wieder betont er, wir lebten in einer Diktatur, aber könnten dagegen protestieren. Zu ZDF-Reportern sagte er bereits vor kurzer Zeit, „eure Zeit ist bald vorbei, wir haben eigene Medien“. Das macht stutzig: Also hat Herr Liebich doch keine Angst? Nein, denn er ist sich in seinem „Widerstand“ siegessicher und verbreitet Angst – Angst an die Mainstreammedien.

Man könnte noch viel Zeit damit verbringen, ihn und die anderen Redner*innen zu zitieren, um zu veranschaulichen was auf der Hand liegt, aber ich kürze es ab: Es gibt keine Utopie, keine Vision von etwas anderem, keine formulierte oder implizierte andere Form der Gesellschaftsorganisation, keine andere politische Form. Aber es wird auch kein Zurück zur Normalität gefordert. Es wird gar nicht verlangt, das Bestehende zu bewahren. Man beruft sich auf das Grundgesetz, ohne es für legitim zu halten. Das ist paradox, aber einer der stringentesten Aspekte des Protests. Liebich und Mitstreitende verwenden die großen Begriffe Demokratie und Diktatur und betonen in jedem Protest, den sie veranstalten, in einer Diktatur zu leben und Demokratie zu wollen. Aber niemals werden diese Begriffe gefüllt, sie bleiben affizierende Bezugsrahmen, in denen man sich bewegt.

Am liebsten kokettiert man aber mit der Stigmatisierung und Verfolgung jüdischen Lebens im Nationalsozialismus.

Opferdasein und Symbolik jüdischer Stigmatisierung

Liebich trug bereits ein T-Shirt, auf dem Anne Frank zu sehen war, mit der Aufschrift: „Anne Frank wäre bei uns! Weg mit den Ausgangssperren!“ … Anne Frank – ein jüdisches Mädchen, das im KZ ermordet wurde. Das ist makaber, aber kein Ausrutscher. Wir lassen hier alle Geschmacklosigkeiten und NS-Vergleiche der Vergangenheit aus, denn sein aktuelles Motiv ist grausam genug und exemplarisch, um zu erklären, wer dieser Agitator ist. Der neue Trend aus Liebichs Shop ist der abgewandelte Judenstern: Der Judenstern (der schwarzumrandete gelbe Stern mit der Inschrift „Jude“) war eine Zwangskennzeichnung, den man nicht freiwillig trug. Es gab rechtlich definierte Juden, die diesen tragen mussten. Die pervertierte Abwandlung des Judensterns als T-Shirt-Motiv verkauft Liebich an Menschen, die sich damit auf Hygienedemonstrationen begeben. Auf diesen T-Shirts steht im Stern die Inschrift „ungeimpft“.

Erste Anmerkung: Beim Tragen dieser Geschmacklosigkeit handelt es sich um eine freiwillige Kennzeichnung und schon damit Verfälschung des historischen Hintergrunds. Nun können wir eine Verkehrung erahnen: Wer diesen Stern (freiwillig) trägt, markiert sich als Teil einer Widerstandsgruppe. Wer ihn nicht trägt, ist Feind. Sich selbst zu stigmatisieren, geht schief, weil es eben freiwillig geschieht und keine Stigmatisierung darstellt. Dieser Widerspruch wird diejenigen, die das Motiv tragen, nicht interessieren. Und Liebich geht es nur darum, mal wieder irgendeinen Gleichsetzung der BRD mit dem Nationalsozialismus anzustellen und sich als Opfer zu präsentieren, das am plakativsten in der Gestalt des Juden ausgedrückt wird. Zweite Anmerkung: Mit der Beibehaltung der Schriftform, die im Original eine Verhöhnung hebräischer Schrift ist, wird diese Verhöhnung reproduziert und damit auch die antisemitische Bedeutung.

Der Protest inklusive dieser Symbolik bzw. der Vergewaltigung solcher Symbolik, diese antisemitischen Exzesse werden von den Versammlungsbehörden geduldet. Liebich zeigt damit, wie weit er (mindestens) gehen kann. Und es ist erstaunlich, wie weit er tatsächlich gehen kann. Damit widerlegt er seine Thesen vom Leben in der Diktatur und von Maulkörben. Erstaunlich, was Liebich denkt, was in einer Diktatur so alles ertragen wird. Allerdings ist auch klar: Sollte er jemals Restriktionen erfahren, ist der Beweis für das Leben in der Diktatur erbracht (ein Beweis, den er nicht braucht).

Farce, Bewegungslosigkeit und der Erfolg der Proteste

Wir sehen bei diesen Protesten natürlich verschwörungsideologische Konstellationen; es werden gefährliche Verschwörungsmythen verbreitet. Aber was ist denn deren konsistente Erzählung? Ich wiederhole: Es gibt sie nicht. Das macht sie so erfolgreich. Und das macht sie so gefährlich.

Hier entsteht eine Bewegung, die nichts will, die nirgendwohin will. Es gibt keine Bewegung, also haben wir eine Bewegung ohne Bewegung. Genau darin liegt der Erfolg, der Zuspruch. Und damit ist es eine Bewegung, die gefährliche Konsequenzen haben kann; eine Bewegung, die eine noch unversöhnlichere Stufe der gesellschaftlichen Polarisierung vorantreibt und deren Unterstützungs- und Propagandakreise bis tief in die Popkultur reichen (Attila Hildmann, Xavier Naidoo, Fler, Leon Lovelock und viele weitere Personen mit viel Reichweite über Youtube, Instagram, Twitter und Telegram-Gruppen).

Sven Liebich ist eine sehr schlechte Karikatur eines Protestführers und Demagogen, er ist eine Witzfigur, aber deshalb so gefährlich. Er kommt gut an, weil der Protest, den er veranstaltet bzw. anleitet, ebenfalls eine schlechte Karikatur von Protest ist. Dieser Protest will nichts. Noch einmal: Er hat keine Ziele, keine Utopie. Er hat nichts zu bieten. Man verpflichtet sich zu nichts, wenn man sich anschließt, wenn man Teil dieser Bewegung ist. Und gleichzeitig schmückt man sich mit affektiv heroisch aufgeladenen Attributen: Man ist Widerstandskämpfer, für Demokratie, gegen Diktatur. Man ist Opfer und setzt sich zur Wehr. Fortlaufend betont man, wie unterdrückt man ist, mundtot, in einer zur Passivität gezwungenen Opferrolle. Und propagiert gleichzeitig, aktiv zu sein, ein Zeichen zu setzen. Und die Paradoxie des Ganzen hinterfragt man nie. So simpel funktionieren die Hygienedemonstrationen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Julius Wolf

Über Politik, Gesellschaft, Emanzipation und Antiemanzipatorisches.

Julius Wolf

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