Die verselbständigte Menschenrechtsverletzung

FRONTEX Erstmals ist beim EuGH Klage gegen FRONTEX wegen Menschenrechtsverletzungen eingegangen. Endlich, denn die Grenzagentur verselbständigt sich im Kampf gegen Flüchtende.

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„Kein Mensch bekämpft die Freiheit; er bekämpft höchstens die Freiheit der anderen“, schrieb Karl Marx 1842 in der „Rheinischen Zeitung“. Dieser Satz drängt sich mir immer wieder auf, wenn ich auf die Migrations- und Grenzpolitik der Europäischen Union (EU) blicke. Die Anstrengungen, Flüchtende vom Erreichen der EU abzuhalten und sie durch systematisches Sterbenlassen abzuschrecken, sind als ein Kampf gegen die Freiheit der Anderen zu verstehen. Wohlstand und Freiheit im Inneren müssen gegen die Anderen, die von außen kommen, verteidigt werden. Das geben die politischen Entscheidungsträger:innen zu verstehen. Flüchtende und zivilgesellschaftliche Akteure haben – so kann es kurzgefasst werden – zu wenig Einfluss auf Exekutive und Legislative.

Gegen die Freiheit Flüchtender setzen andere ihre Interessen durch, weil sie Koalitionen bilden, um die Deutungshoheit in Sicherheitsdiskursen zu erringen. So können sich rechte, konservative oder „bürgerliche“ politische Akteure, Wirtschafsverbände, die Rüstungs- und „Sicherheits“industrie und Behörden immer wieder einigen, wie Migration zu bewerten ist. Der Diskurs der „inneren Sicherheit“ dominiert, trotz humanitärer Appelle, die auch in Regierungskreisen zum guten Ton gehören. Unmissverständlich gilt: Wer Grenzen „schützen“ will, wer an der Abschottung und Militarisierung des EU-Grenzregimes Geld verdient, hat eine Lobby. Wer darunter leidet oder dagegen ankämpft, hat keine. Seit Jahren verselbständigt sich im Zeichen dieser Logik die Grenzagentur FRONTEX im Kampf gegen Flüchtende. Das ist die Konsequenz der menschenfeindlichen Migrationspolitik der EU. Ein kurzer Ausflug.

Elend trifft europäische „Lebensqualität“

Symbolbild für den Status der EU und die in ihr vertretenen Interessen ist ein Foto, das im Herbst 2014 für Aufmerksamkeit sorgte: Wir sehen dort einen Golfplatz in der spanischen Exklave Melilla, zwei Menschen spielen Golf, im Hintergrund ein hoher Zaun, über den mehrere Flüchtende klettert. Dieser Zaun trennt Marokko von Spanien und führt direkt auf den Golfplatz. Ein Polizist auf dem Zaun versucht den Grenzübertritt zu verhindern. Seine Kollegen der Guardia Civil, die hinter den Büschen am Zaun warten, sind nicht im Bild. Ein eindringliches und zynisches Symbol des EU-Grenzregimes. Luxus, Reichtum und Vergnügen durch einen Zaun (inklusive Stacheldraht, Bewegungsmeldern, Nachtsichtgeräten und Kameras) getrennt von Armut, Hunger, Elend. Überrascht es, dass dieser Goldplatz mit 1,4 Millionen Euro von der EU kofinanziert ist? Um die Lebensqualität der EU-Bürger:innen in Melilla zu steigern. Das Elend rüttelt am Zaun.

Als am 17. Mai 2021 6000 Migrant:innen von Marokko aus die hochumzäunte andere spanische Exklave Ceuta erreichten, indem sie schwammen oder die Ebbe nutzten, war die Botschaft der EU-Kommission klar: Es gibt Rückführungsabkommen mit Marokko und so werden alle wieder abgeschoben. Zudem solle Marokko weitere „irreguläre Ausreisen“ verhindern. EU-Innenkommissarin Ylva Johansson empörte sich noch, die Menschen brächten sich ja in Lebensgefahr bei diesen Grenzübertritten.

Rückführungen, Illegalisierung und Zurückdrängungen

Diese beiden Situationen stehen sinnbildlich für die europäische Grenzpolitik und den Umgang mit Geflüchteten und verdeutlichen, wessen Interessen vertreten werden und wessen nicht. Schon seit den 1990ern gilt in der EU, dass zum Zweck der Kontrolle von „Migrationsströmen“ und zur Verhinderung „irregulärer“ Migration Partnerschaften mit Herkunfts- und Transitländern geschlossen werden müssten. Bei einem migrationspolitischen Gipfeltreffen in Tampere 1999 wurde explizit eine entwicklungspolitische Dimension in die Planung der Migrationspolitik eingebunden, offiziell mit der Absicht der Fluchtursachenbekämpfung. In der Folgezeit wurde es aber gängige Praxis, Entwicklungshilfe für afrikanische Länder, die meist auf Hilfsgelder angewiesen sind, an deren Unterstützung im Grenzschutz und die Migrationsbekämpfung zu koppeln. Speziell Rückübernahmeabkommen zwischen der der EU und Drittstaaten werden seitdem forciert.

Im Zuge solcher Abkommen wurden wiederholt Menschenrechtsverletzungen und rechtswidriges Verhalten von Grenzbehörden, Küstenwachen und der europäischen Grenzagentur FRONTEX festgestellt, wie z. B. der Verstoß gegen das Nicht-Zurückweisungsgebot. Die stattfindenden Rückführungen werden nämlich häufig ohne dass Flüchtlinge ordnungsgemäß einen Asylantrag stellen können durchgeführt. Besonders drastisch ist das Vorgehen an den physischen Grenzen, wie an der griechisch-türkischen Seegrenze, an der es häufig zu sogenannten Push-Backs, dem Zurückdrängen von Flüchtlingsbooten auf hoher See kommt. Auch an Land werden solche Push-Backs dokumentiert, wie auf Lesbos. Und auch an den Grenzzäunen der spanischen Exklaven Ceuta und Melilla, an denen Flüchtende schon vor dem Zaun aufgehalten und zurückgedrängt oder einfach durch die Tür im Grenzzaun zurückgeschickt werden, oft mit brutaler Gewalt.

Wenn bestimmte Migrant:innen für illegal erklärt werden, werden sie kriminalisiert; es wird suggeriert, Migration sei ein Verbrechen. Die Illegalisierung von Flucht setzte in Europa mit der Schaffung des Binnenmarkts durch das Schengen-Abkommen ein. So wurde der freie Personenverkehr innerhalb des Gebiets der Vertragsstaaten festgeschrieben, indem die Binnengrenzen wegfielen. Damit einher ging aber die Entstehung einer gemeinsamen Außengrenze um die Vertragsstaaten, die Migration von außerhalb erschweren sollte. Mit der EU-Gründung durch den Vertrag von Maastricht (1992) wurde die Unionsbürgerschaft eingeführt und gemeinsame Migrationspolitik im Rahmen der EU begonnen, die von Anfang an auf Selektion ausgerichtet war. In dem Kontext wurden bestimmte Migrationserscheinungen für „irregulär“ bzw. „illegal“ erklärt, nämlich diejenigen, die nicht in das wirtschaftliche Verwertungsmuster der Union fallen. 1997 trat das Dublin-Abkommen in Kraft, nach dem der Staat für die Prüfung des Antrags zuständig ist, in den Asylsuchende zuerst einreisen. Damit bekunden die Mitgliedsstaaten ihren Unwillen zur Flüchtlingsaufnahme. Mit dem Dublin-III-Abkommen von 2014 wurden die Regelungen intensiviert, indem u. a. die Inhaftierungsgründe erweitert wurden. Besonders durch den Aspekt der Inhaftierung wird Flucht kriminalisiert.

FRONTEX und die Militarisierung der Außengrenzen

Eine weitere Stütze der Außengrenzkontrolle ist die 2005 gegründete „Europäische Agentur für operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der EU-Mitgliedsstaaten“ (FRONTEX). 2013 startete das von FRONTEX koordinierte Europäische Grenzüberwachungssystem EUROSUR. Es dient dem Informationsaustausch zwischen den nationalen Grenzbehörden, sodass die gesammelten Informationen an Frontex weitergegeben werden. Zur Sammlung von Informationen werden an den Grenzen z. B. Satelliten, Drohnen und Hubschrauber eingesetzt. Der restriktive Abschottungskurs wurde auch in puncto Seenotrettung bzw. Push Backs immer weiter verschärft. Eine detaillierte Schilderung würde hier zu weit führen, aber es sei erwähnt, dass institutionalisierte Seenotrettung als Anreiz für Migration betrachtet wird und eine radikale Propaganda des Zurückdrängens von Geflüchteten unter dem Deckmantel der „Schlepperbekämpfung“ die letzten Jahre dominierte. Wenn man die Entwicklungen der letzten Jahre präzisieren will, sind die entscheidenden deskriptiven Vokabeln Kriminalisierung von Seenotrettung und Militarisierung der Augengrenzen.

So wurde 2015 die Militäroperation EUNAVFOR Med (European Union Naval Force – Mediterranean) beschlossen, bei der es darum geht, sogenannte Schleusernetzwerke zu ermitteln und zu zerschlagen, was in der Praxis heißt, jede Form von Fluchthilfe zu kriminalisieren. Während die Seenotrettung auf die EU-Küste beschränkt bleibt, werden die Militäreinsätze gegen Schleuser bis an die nordafrikanische Küste geführt, wobei der Tod von Flüchtenden ganz offensichtlich in Kauf genommen wird. Nachdem in den Bereich der Flüchtlingspolitik in den vergangenen Jahren ein immer stärkeres außenpolitisches Engagement eingebunden wurde, wird jetzt an den Außengrenzen in neuen Dimensionen militärisch aufgerüstet und die Behandlung flüchtlingspolitischer Probleme aktiv in die EU-Verteidigungspolitik integriert. Mittlerweile betreibt FRONTEX in privaten Flugzeugen Luftaufklärung für die libysche Küstenwache, im Rahmen des Frontex Aerial Surveillance Service (FASS). Diese Einsätze erfolgen nicht mehr im Rahmen von EU-Missionen, sondern eigenständig. FRONTEX wandelt sich zu einem privaten Dienstleister für Überwachung und illegale Rückführungen. Darauf weisen auch die sogenannten „Frontex Files“ hin.

Die „FRONTEX FILES“

Diese umfassen mehr als hundert Präsentationen, die Frontex nach Informationsfreiheitsanfragen herausgeben musste. In den Präsentationen bewerben Firmen der Rüstungs- und Sicherheitsbranche militärische Technologien für die Grenzsicherung (Drohnen, Satelliten, Kameras und Radargeräte, bleifreie Munition) – im Rahmen der „Industrietage“, zu denen FRONTEX gerne lädt. Dort treffen sich dann Firmen, Innenministerien, Grenztruppen und weitere Behörden, die mit Themen wie Sicherheit und Migration beauftragt sind. Die größten europäischen Rüstungsfirmen werden ins Hauptquartier nach Warschau eingeladen, um zu präsentieren, was sie für den EU-Außengrenzschutz zu bieten haben. Besonders gern gesehen sind Airbus und der Rüstungskonzern Leonardo S.p.A., die z. B. Drohnen im Mittelmeer stationieren. Noch problematischer: „Die neue Frontex-Verordnung bestimmt den Aufbau einer aus 3.000 Beamt:innen bestehenden „Kategorie 1“ […]. Sie sollte zum 1. Januar 2021 mit Dienstpistole, Schlagstock, Handschellen und Reizstoffen bewaffnet einsatzbereit sein. Mit ihrem Sitz in Warschau gilt Frontex nach polnischen Gesetzen und dem Sitzabkommen mit der polnischen Regierung aber nicht als Einheit, die Waffen oder Munition anschaffen, registrieren, lagern oder in Einsatzgebiete transportieren darf. […] Ungeachtet der rechtlichen Unsicherheit hat die Agentur eine Ausschreibung für die Pistolen, Munition und „nicht-tödliche Ausrüstung“ vorbereitet und Gespräche mit Waffenlieferanten geführt.“ Dazu gehören Heckler & Koch, SigSaur, Glock und Grand Power.

In den letzten Jahren ist das Budget von FRONTEX immer weiter gestiegen (zuletzt 2020: 460 Millionen Euro, 2021: 544 Millionen Euro). Bis 2027 will FRONTEX laut Verordnung eine „Ständige Reserve“ mit 10.000 Beamt:innen aufbauen. Auch deshalb erhöht sich das Budget bis dahin auf 5,6 Milliarden Euro.

Der innere Wohlstand wird mit allen Mitteln verteidigt. Und dazu gehört, dass wir nicht sehen sollen, auf wessen Kosten dieser Wohlstand zustande kommt. Soll die EU bestehen und blühen, so müssen die Außengrenzen definiert und geschützt sein. Daher ist es kein Zufall, dass (wieder) vermehrt über illegale Zurückweisungen von Flüchtenden durch FRONTEX berichtet wird.

Die erste Klage

Endlich – so muss man es sagen – haben nun im Namen von zwei Asylsuchenden Nichtregierungsorganisationen beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) gegen FRONTEX Klage eingereicht wegen Menschenrechtsverletzungen. In der Pressemitteilung der drei Organisationen (Front-Lex, das Progress Lawyers Network und die griechische Gruppe der Menschenrechtsorganisation Helsinki Monitor) heißt es, die Betroffenen seien ein unbegleiteter Minderjähriger und eine Frau, die auf der griechischen Insel Lesbos „gewaltsam zusammengetrieben, angegriffen, ausgeraubt, (...) kollektiv ausgewiesen und schließlich auf Flößen ohne Wasser, Nahrung oder Navigationsmöglichkeit auf dem Meer ausgesetzt worden“ seien. Zudem seien sie auch Opfer weiterer Push-Backs geworden. Die EU wird FRONTEX nicht stoppen, ganz im Gegenteil: Sie will diese Militarisierung und Privatisierung der Agentur, die ihrem Selbstverständnis nach an keinerlei Recht gebunden zu sein scheint. Ein Erfolg der Klage vor dem EuGH wäre ein erster kleiner Achtungserfolg. Viele Klagen müssen folgen, viele Aufdeckungen müssen folgen. Und am Ende muss die Auflösung von FRONTEX – der verselbständigten Menschenrechtsverletzung – stehen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Julius Wolf

Über Politik, Gesellschaft, Emanzipation und Antiemanzipatorisches.

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