Erziehung gegen das Antizivilisatorische

Adorno Eine Betrachtung deutscher Zustände in Zeiten, die an Vergangenes erinnern. Als Empfehlung zweier kürzerer Texte Adornos, die es lohnt, zusammenhängend zu lesen.

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Nie wieder Auschwitz ist Adornos klar ausgeführte Forderung an Erziehung im Manuskript von Erziehung nach Auschwitz von 1966. Jede Erziehung solle der im Zivilisationsprinzip angelegten Barbarei entgegenwirken, um einen Rückfall in die Barbarei – wie es Auschwitz einer war – zu verhindern. Die Zivilisation bringt das Antizivilisatorische hervor. Und so bestehen die Bedingungen dessen fort, denn das Bewusstsein für Nie wieder Auschwitz ist so viele Jahrzehnte nach Ende des 2.Weltkriegs äußerst mangelhaft, so scheint es immer stärker; das Antizivilisatorische war immer in Lauerstellung, wie sich nicht zuletzt plakativ bei Betrachtung der Pogrome in den 1990ern und der aktuellen deutschen Zustände feststellen lässt.

So muss um dem Antizivilisatorischen entgegenzustreben bei der gesellschaftlichen Gegenwart und damit gleichzeitig in der Vergangenheit angesetzt werden, weil „die objektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen fortbestehen, die den Faschismus zeitigten“. Die Nicht-Aufarbeitung der Vergangenheit des rechtlichen Nachfolgestaats des nationalsozialistischen Deutschlands, die von seinen (ehemaligen) Befürwortern und Profiteuren – nicht konsequent von seinen Gegnern – durchgeführt werden sollte, ist Ausgangspunkt für die Beobachtung, dass Deutschland in einen Zustand zurückfällt, der viele Parallelen und ähnliche Gefahren der Zeit vor der NS-Machtergreifung erkennen lässt.

Es geht dabei um mediale und politische Debatten, es geht um gesellschaftliche Stimmungen und um Taten, verbale und körperliche Hetzjagden, um Parlamente und Straßen. Die hiesigen Entwicklungen werden nicht nur von Bildungs- und Informationsanstalten der Neuen Rechten, Pegida oder parlamentarisch von CSU und AfD gefördert, sondern auch nennenswerte Teile von CDU, SPD und der Linkspartei haben einen erheblichen Anteil daran. Seien einige Beispiele antizivilisatorischer Ausbrüche aus der jüngeren Vergangenheit genannt und dabei soll nicht übergangen werden, dass eine fremdenfeindliche Konjunktur in vielen Ländern der Europäischen Union unübersehbar ist.

Deutsche und europäische Zustände

In Schweden wird zur Jagd auf Geflüchtete aufgerufen und dies in die Tat umgesetzt, während in Deutschland eine Handgranate in eine Unterkunft geworfen wird, abgesehen von den hunderten Übergriffen und Anschlägen auf Unterkünfte für Geflüchtete. Längst patrouillieren Bürgerwehren und es gibt Fackelmärsche um Geflüchteten und AntifaschistInnenen mindestens Angst einzujagen. Immer mehr Ortsnamen kursieren durch die Öffentlichkeit, die symbolisch für das Grauen inszeniert werden, wie Clausnitz, wo Menschen von AnwohnerInnen verbal vertrieben und von der Polizei körperlich angegriffen werden, und Bautzen, wo Schaulustige die Brandstiftung in einer geplanten Unterkunft bejubeln.

Staatliche Repressionsstrukturen führen längst die entsprechende Politik aus, teils mit Methoden, die historische Vorbilder haben: So kommt es vielerorts zur Markierung von Geflüchteten, wie in Wales oder Belgien, auch in deutschen Städten wurde ein solches Vorgehen gemeldet. Der florierende Mauerbau in mehreren EU-Staaten führt kontinuierlich das Ausgrenzungssystem gängiger migrationspolitischer Praxis fort, sowie das deutsche Lagersystem, das Menschen zusammenpfercht, sozial isoliert, degradiert und immer wieder Menschen in den Selbstmord treibt.

Und dann braut sich Aufregung über den Schießbefehlvorschlag aus Reihen der AfD zusammen. Pegida-Frontfrau Tatjana Festerling versteht es mit ungenierter Ausdrucksweise und ihrer Betonung der Notwendigkeit des Schießbefehls, das Antizivilisatorische hervorzubringen; folgerichtig schließt sich dem ihre Zuneigung zu Hooligans als Unterstützung an. Die AfD übernimmt für das aggressive Auftreten des rechten Terrorisierens die parteiförmige Stellung einer legalen Schutzmacht in Anspruch. Und in der Wählerschaft wird der parlamentarischen Legitimierung der Barbarei zugestimmt, wie es sich an den wachsend zweistelligen Wahlergebnissen und Prognosen zeigt. Ausgewiesen radikale Vertreter – wie Poggenburg, Höcke und Arppe – stehen mindestens in ihren Bundesländern ungestört in steigender Wählergunst.

Während alledem darf es nicht zum Schweigen über den andauernden und sogar steigenden Antisemitismus kommen: Zu gern ließen Protagonisten öffentlicher Debatten die antisemitischen Motive der Anschläge von Paris, besonders auf das Bataclan, außen vor. Montagsmahnwachen, Endgame und auch Pegida peitschen uralte antijüdische Stereotype und Abgrenzungsmerkmale aus dem deutschen Hinterkopf in die angestauten Wutverlautbarungen, mit dem Anspruch der Wahrheitsfindung und -verbreitung. Querfronten zelebrieren Schulterschlüsse mit Islamisten, wie es jährlich am Al-Quds-Tag geschieht. Anschläge auf Synagogen sind etabliert als Umsetzung permanenter Verängstigung und Vernichtungsgelüste.

Und seit der verspäteten Berichterstattung über die Kölner Silvesternacht dürfen wir uns an diesem heuchlerischen Rassismus im Gewand eines oberflächlichen Feminismus erfreuen, der in ungewohnt aggressiver Weise vorgetragen wird. Und schnell zeigt sich dann auch, wohin das führt: In Köln und anderen Städten werden irgendwelche Ausländer gejagt. Bei politischen EntscheidungsträgerInnen und vielen großen Zeitungen geht es verbal gegen Geflüchtete oder einfach gegen Nordafrikaner und Araber, ohne sinnvolle Differenzierungen vorzunehmen. Andere leben die Gegnerschaft körperlich aus. Wie die Süddeutsche Zeitung vor Nordafrikanern warnte, indem Brennpunktviertel ausfindig gemacht wurden, ist ebenso grässlich und erstaunlich, wie die Anstachelung, die Herr de Maizière betreibt mit der plötzlichen Untersuchung der Kriminalität von Zugewanderten und wie das investigative Interesse des BKA, herauszufinden, ob es einen Zusammenhang von Zuwanderung und sexueller Belästigung gibt.

Und da mittlerweile jedem Zeitung lesendem Menschen hierzulande vermittelt worden sein sollte, wie durchtrieben und böswillig diese Nordafrikaner seien im Verhältnis zum gesitteten, wertorientierten Deutschen, sollen sie nicht nur leichter abgeschoben werden können, sondern ihre eigenen Rückführungszentren bekommen. Das ist nur ein minimaler Auszug aus den unangebrachten Entscheidungen, die – meist mit Bezug zum Umgang mit Zuwanderung – momentan politisch getroffen und diskutiert werden.

Wie politisch Hass und die Gewalt auf den Straßen gefüttert werden, zeigt nicht zuletzt der EU-Türkei-Deal, der einen weiteren Schritt der europäischen Abschottung und Abschaffung des individuellen Asylrechts darstellt. Besonders innenpolitisch wird der Ton härter, rhetorische Menschlichkeitsbekundungen werden gänzlich gestrichen; im Flüchtling steckt der neue Feind der als in sich geschlossen geträumten europäischen Wohlstandszone. Beatrix von Storchs Aussage, „Wer das HALT an unserer Grenze nicht akzeptiert, der ist ein Angreifer. Und gegen Angriffe müssen wir uns verteidigen.“ ist letztlich nur die Versprachlichung der politischen Neubestimmung feindlicher Invasion. So wird bei der Vertreibung des Feindes natürlich auch nicht auf menschenrechtliche Grundlagen geachtet und in die Türkei zurückgewiesen, von der aus es weiter in Kriegsgebiete gehen kann.

Alles bleibt wie es ist

So zeigt sich besonders in der derzeitigen Flüchtlingspolitik das Fortbestehen des Antizivilisatorischen, über Jahrzehnte geschützt durch die vermeintliche Zivilisierung Deutschlands und Europas. Da ist Adornos Einschätzung nachvollziehbar, dass „das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie als potentiell bedrohlicher denn das Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie“ einzustufen sei, wie er in „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit“ feststellt. Denn diese Demokratie, die bürgerliche Gesellschaft der Mitte schützt die Vergangenheit. Im Nachkriegsdiskurs ist Aufarbeitung nicht über das einen Schlussstrich ziehen oder am besten vergessen wollen hinausgekommen.

Diese Mitte der Gesellschaft, die sich fortwährend als antidemokratisch und rassistisch erweist, die sich permanent vom Rechtssein freispricht, die aber Islamfeindlichkeit in liberal-egalitärem Gewand auslebt, sowie salonfähigen Antisemitismus, und darüber diskutiert, ob Herr Sarrazin und co. vielleicht doch Recht haben; Bundes- und Landesregierungen, die vor der AfD warnen, aber sich selbst als ebenso große Gefahren entpuppen wie Parlamentseinzüge für die AfD. Nämlich indem sie rechtspopulistische, rassistische, exkludierende Gesetze verabschieden und Diskurse vergiften. Das ist unter anderem das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie. Nach über 70 Jahren Kriegsende ohne Entnazifizierung. Aus diesem Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie erwächst zunächst diskursiv eine Neuformierung auf breiter Basis gegen die Demokratie, unter zunehmend faschistischen Motiven. Und das gelingt, weil das Establishment sich nicht distanziert, sondern wider besseres historisches Wissen an Eindämmung durch Zugeständnisse glaubt. Und so bleibt alles wie es ist.

Reißen wir noch einen anderen Aspekt der gesellschaftlichen Zustände an: Bei Betrachtung der rechten Renaissance kommt oft Ostdeutschland als Konstrukt ins Spiel, gespickt mit reichlich Vorurteilen und westdeutscher Wohlstandsignoranz. Und wenn wir Pegida, Legida und unzählige fremdenfeindliche Gewalttaten und Potenziale sehen, ist ein Teil des Übels auch dort zu finden… in der Provinz. Dass der Osten medial dafür herhalten muss, den Rest Deutschlands vom rechten Terror freizusprechen ist Teil der gewollten Blindheit und immer wieder wichtig zu betonen. Aber es muss dennoch immer wieder das gesteigerte Potential für rechte Gewalt und rechte Wahlerfolge erklärt werden. Und für die Erklärung muss u.a. in die Zeit der DDR geschaut werden, unter Berücksichtigung, dass diese direkt auf die NS-Zeit folgte. Autoritäre Strukturen wurden dort noch weniger abgebaut als im Westen; viel eher konnte die Sowjetunion die Gegebenheiten sich leicht nützlich machen um die eigene Autorität zu installieren. Waren die Menschen in Adornos Augen nach dem Kaiserreich psychologisch nicht bereit für Selbstbestimmung (der eigenen Freiheit nicht gewachsen), so können sie es zwei Diktaturen weiter auch nicht sein. So bleibt der destruktive Charakter autoritärer Strukturen erhalten. Besonders dort, wo sich nichts ändert; nicht in den Städten, die Globalisierungseffekten nicht entziehbar sind, nicht in den Ausdrucksorten modernistischen Denkens und Handelns, sondern im Ländlichen. Und so ist die Entbarbarisierung besonders des Landes das wichtigste Erziehungsziel. Das betrifft ganz entschieden wiederrum nicht nur diesen Osten, sondern die Gesamtheit dieses Staates. Denn faktisch sammelt sich in den neuen Bundesländern sehr viel Provinz, die Provinz der alten Bundesländer ist keineswegs progressiver aufgestellt.

Der manipulative Charakter

Der Vormacht aller Kollektive entgegenzuarbeiten ist für Adorno die Priorität zur Prävention einer Wiederholung des Vergangenen. Die Kollektivierung an sich wird problematisiert. Denn in den Kollektiven wird dem Individuum beigebracht, sich selbst aufzugeben, um sich selbst zu erhalten, sich als Besonderes fürs Allgemeine zu opfern. Der Gruppenzugehörigkeit – denken wir jetzt einfach mal an sich als politisch homogen verstehende Organisationen und Gruppierungen – ist ein autoritärer Charakter inhärent. Das Kollektiv ist eine Abgrenzung, gerne vom Mainstream und den Eliten, und zugleich grenzt es dich als einzelnes menschliches Geschöpf aus, wenn du dem innerkollektiven Mainstream nicht bedingungslos unterliegst. Die Aufnahme in und Zugehörigkeit zu eben diesen Kollektiven steht in engem Bezug zum Ideal der Härte in der traditionellen Erziehung, welches gespeist ist aus der Vorstellung, Männlichkeit bestehe aus einem Ertragenkönnen. Dieser Masochismus, so Adorno, lässt Sadismus auf sich folgen: Das Hart-Sein bedeute Gleichgültigkeit gegenüber dem Schmerz, ohne Unterscheidung zwischen sich selbst und anderen.

Ein Teil der Forderung an Erziehung ist daher, diesen innerkollektiven Mechanismus bewusst zu machen und Erziehung zu fördern, die Schmerz und Leidensfähigkeit nicht glorifiziert; eine Erziehung, die Angst zulässt. Die autoritätsgebundenen Charaktere, von denen hier die Rede ist, verfügen im „Grunde […] nur über ein schwaches Ich und bedürfen darum als Ersatz der Identifikation mit großen Kollektiven und der Deckung durch diese.“ So finden Kollektive, die einem vorgeben, Gegenmacht zu sein, gegen die erschlagenden bürgerfeindlichen Eliten, hohen Zuspruch; sie geben der eigenen Unzufriedenheit und Überforderung Sinn, sie füllen die Leere mit Haltung und Argumentation, sie suggerieren dir Macht und beherrschen dich dabei durch und durch. Im autoritären Charakter hat das Individuum sich aufgegeben, seine Wesenszüge verdrängt, sein Selbstverständnis weicht der Unterordnung unter eine kollektive Identität. So wächst die Abneigung gegen das Abweichende, also das Individuum, das nach sich selbst strebt, das sich dem Menschlichen zuwendet. Es hat sich verdinglicht. Das nennt Adorno den Typus des verdinglichten Bewusstseins.

Auf diesem Stand – fernab der Wahrnehmung der eigenen Freiheit des Denkens – sind diese autoritätsgebundenen Charaktere in hohem Maße manipulativ, sie tragen jede Unmenschlichkeit vor sich hin. Es geht hier nicht um überzeugte FaschistInnen oder ideologische Autoritäten welcher Gesinnung auch immer. Es geht um die TrägerInnen der offenen Barbarei, die sich leicht wecken lassen, ob nun für oder gegen das Mächtige.

Der manipulative Charakter festigt also Untertanenmentalität. Und die Untertanen lassen sich leicht instrumentalisieren. Zur Sinngebung der eigenen Einöde werden Schwächere gesucht und gefunden, die das Böse darstellen, denn über sie kann – scheinbar – Macht ausgeübt werden. Die Schuld wird in sehr abstrakter Weise in diesen Tagen bei Geflüchteten gesucht, auch um konkrete Bestrafung (Angriffe, Brandanschläge, Drohungen) zu rechtfertigen. Nach der eigenen Abschaffung wird der Sadismus ausgelebt, das Andere wird abgeschafft.

Ausweg?

Der gesellschaftshörige Mensch treibt sich in Kollektive, möglichst mit griffigen, aber eben doch abstrakten, vorgegebenen Identitätskonstruktionen; er flüchtet in die einfachen Antworten auf komplexe Fragen. In den jetzigen Zeiten, in denen Deutschland im institutionalisierten Europa von vielen Seiten als Hegemonialmacht angesehen wird, lebt die Etablierung des völkischen Kollektivs auf. Es wird die Unterjochung mystifiziert, jegliche Verschwörungstheorie globalen oder gezielt antigermanischen Charakters lebt auf, im Zeichen eines grenzenlosen Antiamerikanismus. Mangelnde staatliche Souveränität, gezielte Fehllenkung im Sinne des als mal amerikanisch, mal als jüdisch klassifizierten Großkapitals werden angeklagt und deutsches ebenbürtiges Handeln und globales Strukturieren werden ausgeblendet. In rücksichtsloser und weltentfremdeter Fokussierung auf die Nation, in geistiger und materieller Isolierung des Deutschen wird kollektiv der Ausweg entworfen – wieder entworfen – und als einziger Bezugspunkt eigener Identitätssuche konsumierbar gemacht und zunehmend konsumiert – von der Etablierung einer medialen Gegenöffentlichkeit über personelle, intellektuelle Bezugspunkte bis zu verschriftlichter Programmatik in Form von Wahlprogrammen und Strategien, z.B. der AfD. Mit der Betonung des Individuellen, der Bejahung von Individualisierungsprozessen ließe sich Gefahren kollektiver Geschichtsrevision und antidemokratischer Massenbequemlichkeit entgegenwirken; sie wäre schon allein eine Abwehr des manipulierenden Charakters der Kollektive.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Julius Wolf

Über Politik, Gesellschaft, Emanzipation und Antiemanzipatorisches.

Julius Wolf

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