„Gefahr von links“ für die Demokratie?

Identitätspolitik Die Klagen über „Cancel Culture“ und „Gefahren von links“ für Demokratie und Journalismus werden immer lauter. Zeit für einige Richtigstellungen

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Sitzen hier drei Leute, deren Meinungen nicht mehr gehört werden?
Sitzen hier drei Leute, deren Meinungen nicht mehr gehört werden?

Foto: John MacDougall/AFP/Getty Images

Immer häufiger beklagen Journalist:innen, Politiker:innen, Wissenschaftler:innen und andere Personen öffentlichkeitswirksam in großen Zeitungen oder im Fernsehen die „Gefahren“, die von Aktivist:innen oder „Linken“ ausgingen – Gefahren für den Journalismus oder gar für die Demokratie. Wer genau damit gemeint ist, bleibt vage. Selten wird konkret benannt, wer denn die große Gefahr ausstrahle, stattdessen wird eine mächtige linke Mehrheit konstruiert, die keine „abweichenden Meinungen“ dulde. Einst beklagte man „Political Correctness“, nun sei diese in „Cancel Culture“ gemündet. Die Warnenden stilisieren sich zu mutigen Freiheitskämpfern gegen diese „totalitäre“ Entwicklung, in Wahrheit jedoch vermessen sie selbst das weite Feld der ihnen unliebsamen Haltungen, die sie in ihren Leitmedien nicht haben wollen. So möchten sie verdrängen, dass ihre eigenen „abweichenden Meinungen“, die sie sich selbst zusprechen, im Lichte dominanter gesellschaftlicher und politischer Diskurse keineswegs abweichend, sondern mehrheitsfähig und bislang weitgehend unwidersprochen sind.

Ihr Problem: Mittlerweile sind die Zugangshürden für grundlegende politische Kommunikation kleiner geworden und diskursive Partizipation erleichtert zugänglich. Und so kommen einige Stimmen von Leuten zum Vorschein, von deren Existenz man doch eigentlich nichts wissen wollte. Die Kritik, die als „Gefahr von links“ diffamiert wird, drückt immer noch die tatsächlich abweichenden Meinungen aus. Stattdessen wird aber die „Gefahr von rechts“, also die menschen- und demokratiefeindliche Bedrohung rechtsradikaler und autoritärer Akteure (implizit) relativiert. Anhand der jüngsten Wehklagen des Zeit-Chefredakteurs und Talkshow-Moderators Giovanni di Lorenzo und des ehemaligen Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse ordne ich nachfolgend meine Irritation.

Die Klagen über Identitätspolitik

Giovanni die Lorenzo erklärt in einem Beitrag anlässlich des 75. Geburtstags der Zeit, dass trotz „höchste[r] Auflage ihrer Geschichte“ „nicht die richtige Zeit“ zum Feiern sei. Denn: „Die Freiheit der Medien ist bedroht. Auch von einer Seite, von der man es nicht erwartet hätte.“ Die Freiheit der Medien ist bedroht, ja! Denken wir an die regelmäßigen Angriffe Rechtsradikaler und Nazis auf Journalist:innen bei Demonstrationen oder im Alltag, denken wir an die kritikunfähigen Spitzenpolitiker:innen in diesem Land, die allzu oft unliebsame Berichterstattung verhindern wollen. Aber – auch wenn die Lorenzo zunehmende rassistische und misogyne Anfeindungen anspricht – das meint er nicht.

Nein, so richtig einschüchternd sei „eine […] Entwicklung, für die relativ kleine Gruppen von Akademikern und Aktivistinnen verantwortlich sind, die aber eine enorme Wirkungsmacht entfalten, weil sie viel Resonanz und manchmal auch Sympathie in einigen Medien finden“: Ja, einschüchternd seien die Wortmeldungen und Empörungen derjenigen, die „mit Blick auf die größer werdende Diversität von Gesellschaften mehr Respekt, Teilhabe und Fürsorge“ einfordern. Das Problem sei also – etablierte Reizworte sind elementarer Bestandteil solcher Wehklagen – „Identitätspolitik“. Tatsächlich gemeint ist jedoch nicht die dominante Identitätspolitik, die von den reichen und gut situierten Bevölkerungsteilen ausgehend dieses Land regiert, gemeint ist mit anderen Worten nicht die Klassenpolitik der herrschenden Klasse, sondern die Wut derjenigen, die auch Teil der Gesellschaft sein wollen und mittlerweile manchmal sogar gehört werden.

Auch Wolfgang Thierse ist äußerst besorgt, denn „Menschen werden vom Diskurs ausgeschlossen an den Universitäten oder in den Medien, die unliebsame Ansichten haben, die einem nicht passen, die man ablehnt“. Ihm beispielsweise werde „vorgehalten, das sind ja die Ansichten eines alten weißen Mannes mit heterosexueller Orientierung, heteronormativer Orientierung. […] Mein Alter, meine ‚Rasse‘, mein Geschlecht, meine sexuelle Orientierung – also ist die Sache erledigt.“ Solche Äußerungen sind repräsentativ für den Beschwerdemodus, den Menschen für sich entdeckt haben, die ihre eigene gesellschaftliche Vormachtstellung angegriffen sehen, weil es auf irgendeine Weise emanzipatorische Bestrebungen in der Zivilgesellschaft gibt, einige kolonial-rassistische und misogyne Denk- und Verhaltensmuster aufzubrechen. Ohne den Zynismus einer Täter-Opfer-Umkehr in ihren Aussagen zu erkennen, warnen sie vor der Gefahr von links.

Die linke Gefahr – welche Linke?

Wer ist diese gefährliche politische Linke? Genannt werden Aktivist:innen, Student:innen, sogar Journalist:innen, in jedem Fall Menschen, die „Identitätspolitik“ in den Vordergrund stellen würden. Die Kritik an „Identitätspolitik“ in diesen Äußerungen ist nicht zu verwechseln mit der quasi innerlinken Debatte Identitäts- vs. Klassenpolitik. Nein, was hier angeprangert wird ist Identitätspolitik im Sinne der Sichtbarmachung anderer Identitäten (Nicht-Weiße, Nicht-Männer. Was zu kurz kommt und zu recht von links kritisiert wird ist die mangelhafte Thematisierung von Klassendifferenzen). Was nicht kommuniziert und vielleicht nicht einmal erkannt wird, ist dass es sich um die unterschiedlichsten Menschen und Gruppierungen handelt, die ganz unterschiedliche Missstände ansprechen, auf ganz unterschiedliche Art und Weise. Aber sie werden kumuliert zur linken Gefahr, die doch schon immer die bürgerliche Gesellschaft am meisten bedrohte.

Die Inklusion von Diversity-Themen in die Businesswelt füttert die Angst vor dem linken Mainstream: So müsse es doch ein Skandal sein, dass in manchen Unternehmen eine Frau, am Ende sogar noch „mit Migrationshintergrund“ mit im Vorstand ist. Manche Supermärkte sind derart „LGBTQIA-freundlich“, dass sie eine Regenbogenflagge vor ihren Geschäften hängen haben! Bunt angestrichene Parkbänke sollen unsere Offenheit für Vielfalt ausdrücken – wenn denn wenigstens dafür gesorgt ist, dass Wohnungslose nicht auf diesen Bänken schlafen. Mancherorts gibt es nun Standards, dass und wie gegendert werden soll – Bevormundung! Als würde das irgendjemanden einschränken.

Die naive Betrachtung des progressiven Neoliberalismus, dass wir nun ja so wahnsinnig offen seien, hört genau da auf, wo es um konkrete Verbesserungen der Lebensumstände geht. Stattdessen machen wir uns aufgrund von Regelungen in der Verwaltung Sorgen, wie Wolfgang Thierse: „Es gibt Verwaltungsanordnungen in unterschiedlichen Städten, wie die Sprache zu sein hat“; die Sprache werde von oben, „auf dem Verordnungswege“ verändert. Das ist eine richtige Feststellung, aber irritierend, wenn sie nicht als eine Kritik an Verwaltungssprache an sich formuliert wird. Verwaltungssprache ist klar reguliert, Verwaltungsanordnungen regeln, welche Worte in schriftlichen Verwaltungsvorgängen wo und wie verwendet werden. Das kann ich problematisieren, aber wenn die Kritik nur auf das Gendern bezogen wird, ist diese Kritik verkürzt und blind.

Wenn diejenigen, vor deren Kritik sich die Wehklagenden Thierses und co. so fürchten, die ihnen den Mund verbieten, so mächtig sind, der Mainstream sind und wir alle wegen denen unter Konformitätsdruck stehen, wo sind die denn? Wo drückt sich deren Macht aus? Gehen die etwa alle nicht wählen, leben im Untergrund oder wird vielleicht doch das falsche Feindbild gezeichnet? Selbst wenn man manche Aspekte der Sorgen von Giovanni di Lorenzo und Co. teilt: Von einer „Gefahr“ zu sprechen ist eine groteske Leugnung der realen Machtverhältnisse in einem Land wie Deutschland, in dem Kapital- und Eigentumsverhältnisse die politische Agenda bestimmen und in dem mit Blick auf den parlamentarischen Betrieb konstatiert werden muss, dass es keine aufstrebenden linken Parteien und schon gar nicht linke Mehrheiten gibt.

Norm, Abweichung, Macht

Di Lorenzo stützt sich auf Marion Dönhoffs (ehemalige Zeit-Chefredakteurin) Postulat, „abweichende Ideen nicht zu diffamieren und Kritik an Bestehendem nicht als Ketzerei zu verfolgen, sondern die Minderheiten zu schützen“. Seine Ausführungen sind jedoch das Gegenteil: Er diffamiert die Artikulation von Kritik am Bestehenden. Und er beklagt Konformitätsdruck, will diesen aber selbst ausüben; er möchte „Misstrauen gegenüber jeder Institution und Person, die Macht hat“, ohne sich selbst diese Machtposition zuzuschreiben und ohne die Artikulation des Misstrauens zu akzeptieren. Thierse scheint sich selbst auf der Seite der Abweichler zu sehen, denn „es wird inzwischen ein Stil sichtbar, dass derjenige, der sagt, ich bin betroffen, ich fühle mich ausgeschlossen, ich empfinde mich als Opfer, dass der schon Recht hat. Aber unsere Tradition seit der Aufklärung ist doch die, nicht die Betroffenheit, […] sondern das vernünftig begründende Argument, das muss uns miteinander verbinden, das muss den Diskurs strukturieren.“ Aber gegenwärtig werde, da er ein alter weißer heterosexueller Mann sei, „gar nicht mehr hingehört“, er werde „definiert durch Herkunft, durch Identität“.

Das vernünftige, begründete Argument solle sich durchsetzen – die alte Habermas’sche Utopie! Ja, streben wir das an! Aber wenn Thierse dies ernst meinen würde, müsste er eben jene Kritik gutheißen, die er als „demokratiefeindlich“ betitelt. Denn darum geht es doch: Nicht mehr Herkunft, Identität, Einkommen, Geschlecht etc. sollen entscheiden, wer sich durchsetzt und wer überhaupt gehört wird. Nein, es soll einen idealtypischen herrschaftsfreien Diskurs geben. Dafür wird gekämpft. Und dafür muss benannt und kritisiert werden, wer aktuell die Macht in diesem Land hat, wer das Rede- und Entscheidungsrecht hat. Denn das ist die Realität: Wer bestimmte identitäre Zuschreibungen auf sich vereint, ist mitunter dadurch allein schon ausgeschlossen. Thierse ist es eben gerade aufgrund der ihm zugeschriebenen identitären Merkmale nicht. Der zwanglose Zwang des besseren Arguments darf niemanden aus dem Diskurs ausschließen. Wenn nicht erkannt wird, dass es darum geht, wenn feministische und antirassistische Aktivist:innen dieses und jenes kritisieren, ist die ganze Aufregung von Thierse und Co. ein scheinheiliges, herrschaftsstützendes Geseier.

In der Gegenwartsgesellschaft ist der dominante Diskurs rassistisch, sexistisch und klassistisch. Legitime Wahrheit haben also rassistische, sexistische und klassistische Positionen und Politiken. Wenn dieser Konsens gestört wird, sei die Demokratie in Gefahr. Nein, dieses liberalistische Denken, das nicht über die eigenen vier Wände hinausdenken kann, muss gestört werden, es muss demokratisierend gestört werden, indem die gehörten Stimmen sich permanent vervielfachen. Konfliktiver Pluralismus öffnet die Gesellschaft, nicht diskursive Verschließung.

Selbst wenn immer mehr über so etwas wie gesellschaftliche Vielfalt geredet wird: Strukturell ändert sich doch nichts! Und das wollen die Wehklagenden auch nicht; genauso wenig wollen das diejenigen, die Themen wie LGBTQIA-Rechte und Antirassismus in den Institutionen der BRD aufgreifen. Sie wollen symbolische Aktionstage, an denen Diversität gefeiert wird, mehr nicht. Die Politik ist in ihrem Output weiterhin rassistisch, sexistisch und antifeministisch und sie ist natürlich klassistisch, weil wir in einer Klassengesellschaft leben; sie ist für die Reichen und gegen die Armen.

Die Leute haben also Angst, dass ihre rassistische und sexistische Politik aufgebrochen wird. Diese Angst sollte Linken Hoffnung machen und motivieren, denn offenbar zünden die antikommunistischen Reflexe wieder sehr schnell in der bürgerlichen Gesellschaft. Was passiert, wenn jetzt an Universitäten gegendert wird? Die Befürchtung scheint zu sein, dass am Ende wirklich noch soziale Ungleichheit politisch thematisiert wird; dann geht es plötzlich um die Lebensverhältnisse, um die wirtschaftliche Ordnung. Und dann haben wir Kommunismus. Na dann, let’s do it!

Verharmlosung der Menschenfeinde

Wir sollten dieses ganze Gejammer tatsächlich ernst nehmen und als Aufforderung für eine sozialistisch-radikaldemokratische Veränderung der Gesellschaft von unten sehen, denn unterschwellig verbrüdern sich die Jammernden mit dem rechten, konservativen und hetzenden Mob, der durchaus Journalismus und Demokratie gefährdet: Di Lorenzo nimmt ausgerechnet die Springer-Presse in Schutz, denn die „Journalisten dort und auch ihre Wohnungen und Häuser müssen immer wieder gesichert werden, und der Chefredakteur der Bild-Zeitung wird sogar in einer gepanzerten Limousine gefahren.“ Sie sind also die Opfer. Es fehlt jegliche Erklärung dazu, wie viele Menschenleben diese Leute auf dem Gewissen haben, wie sie gegen Menschen und ganze Menschengruppen hetzen, wie sie die Morde von Hanau und den NSU mit zu verantworten haben, wie sie gegen Arbeitslose und Geflüchtete hetzen, wie sie regelmäßig Leute in den Suizid treiben. Wer über die Zukunft der Demokratie besorgt ist, betrachtet diese Ausformungen des „Journalismus“ nicht als Kolleg:innen, sondern als Feinde der Demokratie und als Feinde der Menschheit. Die Verharmlosung der Menschenfeinde ist gefährlich.

Ist es soweit, dass das Bürgertum die politische Linke offen als das größte Problem für die parlamentarisch-marktwirtschaftliche Demokratie hält? Wenn dem so ist, muss das für sich als links verstehende Menschen und Gruppen heißen, dass der Ton verschärft und klar benannt werden muss, worum es geht: Klassenkampf. Dann müssen wir diskutieren, was die Diktatur des Proletariats ist, was wir davon halten und was Rätedemokratie bedeuten kann. Die Warnung vor den Linken, die die Demokratie kaputt machen, ist nichts anderes als die Angst vor dem Gespenst des Kommunismus. In dieser Entwicklung, in der immer häufiger solche Warnungen ausgesprochen werden, offenbaren sich die Klassenverhältnisse in der Gesellschaft deutlicher, als zuvor und so können wir ruhig das eigenwillige marxsche Vokabular rehabilitieren: In einer Klassengesellschaft übt eine Klasse Herrschaft über andere Klassen aus, diktatorisch. Das gilt auch, wenn die Gesellschaft politisch repräsentativ-parlamentarisch organisiert ist.

Die Diktatur des Proletariats bedeutet lediglich die politische Transformation hin zur klassenlosen Gesellschaft, in der niemand herrscht, sondern alle – und damit auch die bisher Ausgeschlossenen und Marginalisierten (die die große Mehrheit der Gesellschaft darstellen) – die Macht haben. Insofern bedeutet dies die umfängliche Demokratisierung der Gesellschaft, in der Pluralität, Freiheit und Gleichheit sich tatsächlich durchsetzen: Eine Demokratie ohne Volk, in der nicht eine unlösbare Vielheit der Einzelnen sich unversöhnlich gegenübersteht, sondern eine Einheit der Vielheiten erkannt und gefördert wird. Nicht das Volk, sondern die Multitude charakterisiert die Gesellschaft dann, um es mit Hardt und Negri zu sagen. Angetrieben durch Differenz miteinander in Beziehung treten und Gemeinsames produzieren, eine widerständige, vielfältige Kollektivität. Denn wie Thierse sagt, es aber anders meint: Eine pluralistische Gesellschaft kann nur funktionieren, wenn Unterschiedlichkeiten zu Wort kommen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Julius Wolf

Über Politik, Gesellschaft, Emanzipation und Antiemanzipatorisches.

Julius Wolf

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