Konkurrierende Wahrheiten

AfD in Syrien Die AfD zeigt mit der Syrienreise einiger Abgeordneter, was "Alternative Facts" sind. Sie produzieren eine andere Wahrheit und bereiten neue Bündnisse vor

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H. Weyel, S. Christ, U. Hemmelgarn, C. Bex, A. P. Hampel and F. Pasemann gehen für die AfD auf Reisen
H. Weyel, S. Christ, U. Hemmelgarn, C. Bex, A. P. Hampel and F. Pasemann gehen für die AfD auf Reisen

Foto: Sean Gallup/Getty Images

Dass die Lüge in der Politik und im Politischen ihren Platz hat, wird niemand bestreiten. Politik bedeutet nicht die Durchsetzung von Wahrheit, sondern viel eher Entscheidungen finden, am besten unter Berücksichtigung verschiedener Interessen. Dabei stoßen unterschiedliche, auch unvereinbare Sichtweisen aufeinander. In konfliktiver Perspektive auf politische Aushandlungsprozesse in Demokratien prallen tatsächlich Wahrheiten aufeinander, die im öffentlichen Raum nicht alle die gleiche Durchsetzungskraft erlangen. Wir leben in Zeiten besonderer Präsenz der politischen Lüge; Zeiten, in denen diese eine systemische Bedeutung erlangt. Im Folgenden soll ein kleiner Einblick in den Zusammenhang von sogenannten Alternative Facts und einer aktuellen Syrienreise einiger AfD-Abgeordneter gegeben werden.

Die politische Lüge und Alternative Facts

Die Lüge im Politischen, die politische Lüge, ist nicht die private Lüge, sondern sie hat ihren Platz im öffentlichen Raum, zwischen Menschen, und sie versucht diesen öffentlichen Raum zu beeinflussen, zu verändern. Dabei kann es sich um vergleichsweise Banalitäten handeln, um Details, aber auch um organisierte, systematisch erzeugte Lügen, die das politische Geschehen massiv verändern. Das alles ist nicht neu, dennoch leben wir in einer Gesellschaft, in der politische Lügen als Vorwurf und zugeschriebene Charaktereigenschaft von Politikstilen (in Demokratien) omnipräsent sind. Fake News und Alternative Facts sind die neuen Begriffe, die politischen Gegnern an den Kopf geworfen werden.

Diese Begriffe erreichen ihre Prominenz in einer Zeit, in der die spätmodernen Demokratien Europas und Nordamerikas ein hohes Maß an gesellschaftlicher Polarisierung aufweisen, der Konflikt den Konsens ablöst und auch das Misstrauen auf die Gegenseite sehr vordergründig ist. Häufig wird ein Fehlen der Fakten in politischen Debatten beklagt. Der rationale Diskurs, in dem mittels rationaler, faktenbasierter Argumentation informierter BürgerInnen Entscheidungen im Sinne einer Konsensbildung ausgehandelt werden, die dann von allen akzeptiert werden, wie es sich AnhängerInnen deliberativer Demokratietheorien wünschen, wird vergeblich gesucht. Die Umstößlichkeit politischer Überzeugungen wird einem deutlich vor Augen geführt. Besorgte BeobachterInnen diagnostizieren nicht selten den Zustand einer postfaktischen Demokratie. Aber was soll das überhaupt sein?

Betrachten wir einen Definitionsversuch: „Eine Demokratie befindet sich in einem postfaktischen Zustand, wenn nicht länger Tatsachen und Beweise, sondern opportune Narrative als Grundlage der Meinungsbildung in der öffentlichen Debatte und der Politik dienen. In einer postfaktischen Demokratie haben Tatsachen und deren Belege ihre Autorität verloren.1 Wir sehen: Die Diagnose postfaktischer Demokratie beruht auf der Vorstellung, Meinungsbildung basiere auf Fakten, auf Belegen und es wird vorausgesetzt, dass es diesen Zustand der Demokratie jemals gab. Es wird von der faktischen Demokratie ausgegangen. In seiner extremen Ausformung würde diese Betrachtungsweise zu einer technokratischen Wissenschaftshörigkeit führen, die ihrerseits äußerst wenig mit öffentlichen Aushandlungsprozessen und Demokratie zu tun hätte. Richtig ist aber, dass zunehmend Narrative aufeinander treffen, die mitunter unvereinbar sind und in unterschiedlichem Maße Tatsachenwahrheiten infrage stellen oder ignorieren. Es finden unterschiedliche Diskurse über die gleichen Themen statt; politische Fragen werden in unterschiedlichen Wirklichkeiten ausgehandelt, die einander ignorieren.

Plastisch zu sehen ist das in zugespitzter Form in den USA, in denen der Präsident und seine Anhängerschaft sich komplett auf ein alternatives Mediennetz beziehen, aus dem sie ihre Wirklichkeit schöpfen. Und die – vereinfacht gesprochen – liberalen USA beziehen sich auf die etablierten Medien und Institutionen. Gegenseitig weiß man vom Gegner, dass dieser Fake News verbreite. Der Aufbau alternativer Medienstrukturen ist aber auch überall sonst, auch in Deutschland zu spüren. Veränderte Mediennutzung und das freie Internet helfen dabei natürlich immens, da es leicht ist, sich den etablierten Medien zu entziehen.

In diesen alternativen Strukturen, in denen man quasi selbstreferentiell und unter sich agieren kann, wird Wahrheit produziert, die man dem, was als Wahrheit gilt entgegenhält und diese relativiert. Man produziert Alternative Facts. Donald Trumps Wahlkampfmanagerin und Beraterin Kellyanne Conway prägte diesen Begriff entscheidend mit. Diese alternativen Fakten stellen eine Alternative zu bis dahin gegebenen Tatsachenwahrheiten dar und erheben Anspruch auf dieselbe unmittelbare Gültigkeit. Wahrheit wird zur Meinung und Meinungen gibt es halt viele. Bei Alternative Facts handelt es sich um unterschwellige Lügen: „Anders als bei der klassischen politischen Lüge leugnet die unterschwellige Lüge die Tatsachen also zunächst nicht und greift sie auch nicht an. Das Novum der unterschwelligen politischen Lüge besteht also nicht in einem aggressiveren Vorgehen gegen die Tatsachen, sondern in ihrer Relativierung2. Genau das ist das entscheidende Merkmal der politischen Lüge in der heutigen Zeit: Tatsachen werden Meinungen, die man sich entsprechend der eigenen politischen Position auswählt. Und dies entwickelt sich derzeit zu einem Strukturmerkmal demokratischer Öffentlichkeit.

In konflikttheoretischer Perspektive auf die Demokratie könnte man zunächst davon ausgehen, dass wir es mit einer Belebung demokratischer Öffentlichkeit zu tun haben: Es gibt Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit, einen lebhaften Kampf um Hegemonie und Akzeptanz der eigenen Positionen. Jedoch schwindet der demokratisierende Charakter, wenn man den Gegner nicht als legitimen Akteur anerkennt und ausschließt. Zudem nutzen antidemokratische Akteure selbstverständlich die Mittel ebendieser demokratischen Öffentlichkeit, um sich politisch mittelfristig durchzusetzen. So auch die AfD, wie an einem aktuellen Beispiel kurz veranschaulicht werden soll.

Die AfD in Syrien: Konkurrierende Wahrheiten und versuchte Bündnispolitik

Die selbsternannte Kontaktgruppe Syrien der AfD-Bundestagsfraktion (nicht zu verwechseln mit der zwischen Februar 2012 und Januar 2014 bestehenden internationalen Kontaktgruppe) ist nach Syrien gereist, für einen mehrtägigen Aufenthalt. Angeführt wird die Gruppe von Frank Pasemann und Waldemar Herdt, mit dabei sind noch Udo Hemmelgarn, Jürgen Pohl und Steffen Kontré. Welchen Zweck hat eine solche Reise? Zweck ist Gegenöffentlichkeit, genauer: die Produktion einer anderen Wahrheit über die Lage in Syrien; schließlich muss erklärt werden, warum mehrere hunderttausende SyrerInnen aus Deutschland wieder nach Syrien können. Zweck ist auch das Bilden neuer Bündnisse.

Die AfD spricht schon lange davon, dass die SyrerInnen, die in Deutschland sind, in Syrien für den Wiederaufbau nötig seien. Wenn es aus Regierungskreisen und Gutachten heißt, dass die Lage für Oppositionelle in Syrien immer noch gefährlich sei, wird von der AfD einfach dementiert, dass es oppositionelle Geflüchtete gibt bzw. gab. Syrien sei befriedet; der Wiederaufbau ist das vorgeschobene Argument für die erwünschte Vertreibung von SyrerInnen aus Deutschland. Mit dem Narrativ des Wiederaufbaus hantiert die AfD nicht unüberlegt, schließlich denkt das Klientel gerne nostalgisch an den Wiederaufbau Deutschlands und an den Mythos Trümmerfrauen.

Ja, die SyrerInnen sollen doch zurück nach Syrien und ihr Land wiederaufbauen, Deutschland solle lieber dabei helfen, als mit Sanktionen dem syrischen Volk zu schaden. Und unbedingt müssten wieder vollwertige diplomatische Beziehungen aufgebaut werden. Man spricht von einer souveränen Nation, unter vollständiger Anerkennung der Legitimität des Assad-Regimes. Deutschland solle eine „Mittler“-Position einnehmen, was bedeutet: Partner, Verbündeter Syriens werden. Verziert werden solche Ausführungen mit ethnopluralistischen Vorzeigefloskeln wie „Syrien muss wieder zum Land der Syrer werden.“ Deutschland solle das syrische Volk von seinem Leid erlösen. Syrien den Syrern, Deutschland den Deutschen, so die Botschaft. Unter diesen Umständen bestünde dann eine wunderbare Völkerfreundschaft – solange nur jeder da ist, wo er herkommt.

Pasemann betont immer wieder, dass es rein gar keinen Grund mehr gebe, nicht nach Syrien zurückzukehren. Assad wird als auf Versöhnung erpichter, guter Präsident hochstilisiert – ohne jegliches Wort der Kritik. Da Assad eine Generalamnestie erlassen hat, könnten nun alle SyrerInnen zurück – Flucht wird damit explizit zum Verbrechen und Landesverrat erklärt – die SyrerInnen in Deutschland zu Verbrechern. Assads Sprache wird übernommen, so seien alle seine Gegner Terroristen. Die AfD baut vorsorglich gute Beziehungen zum Assad-Regime auf und integriert sich damit in die Achse Russland-Syrien-Iran, der man sich dann – nach der Machtergreifung – direkt anschließen kann.

Die AfD-Syrien-Kampagne ist größer angelegt und startete mit einem Antragsbündel im Bundestag, in dem die Rede von diplomatischen Beziehungen, Wiederaufbau und Sanktionsabbau ist, sowie von der Anerkennung Bashar al-Assads als legitimen Präsidenten. In Syrien trifft man dann auch Regierungsvertreter und religiöse Größen. Vor anderthalb Jahren gab es bereits eine weniger offizielle Syrienreise, auf der Bilder produziert wurden, die „kein Krisengebiet zeigten, keine Zerstörung, sondern friedliche Straßenszenen aus Damaskus.“ Die nun entstehenden Bilder eines scheinbar sicheren Syriens begleiten diesmal eine größer angelegte Kampagne zur Rückkehr syrischer Geflüchteter.

Ihren Ursprung hat die Reise wohl beim „Jalta International Economic Forum“, ein von Russland jährlich ausgerichtetes Treffen auf der Krim, an dem russlandnahe Vertreter, also Parteien wie die AfD, teilnehmen, um Bündnisse aufzubauen. Dort kam es wohl zu Gesprächen mit dem syrischen Botschafter in Moskau. Hier zeigt sich eine wesentliche Komponente des AfD-Handelns: Internationale Bündnispolitik, zur Vernetzung alternativer Fakten verschiedener politischer Akteure, die in der spätmodernen Demokratie versuchen, diese zu überwinden. „Die Bundesregierung verweigert sich der Anerkennung der Realität“, heißt es von Pasemann. Ja, könnte man sagen, sie verweigert sich der Realität, so wie es auch die AfD tut. Man verweigert sich der Realität der Anderen, weil diese unvereinbar mit der eigenen Realität und den eigenen Zielen ist.

1 Hendricks, Vincent F./Vestergaard, Mads (2017): Verlorene Wirklichkeit? An der Schwelle zur postfaktischen Demokratie, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 67(13), S. 4-10, hier S. 5.

2 Hähnlein, Astrid (2018): Politische Lügen. Ein ‚konstruktiver‘ und drei ‚destruktive‘ Prototypen, in: diskurs 2(4), S. 26-45, hier S. 32.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Julius Wolf

Über Politik, Gesellschaft, Emanzipation und Antiemanzipatorisches.

Julius Wolf

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